Leopold Gerhardy

Leopold Gerhardy


Leopold Gerhardy
Richter (1856 - 1911)

Mein Vater, zwei Jahre älter als sein Bruder Gustav, wurde Richter. Geboren am 12.11.1856 in Stralsund starb er am 19.10.1911 in Mönchengladbach an den Folgen einer Lungenentzündung, Nach ihrer Stralsunder Zeit lebten die Großeltern, der Regierungsrat, in Erfurt, wo auch die Söhne zur Schule gingen. Irgendwo existiert noch ein Schülernotizbuch meines Vaters. Ich habe es nachgelesen. Mein Vater war damals 12 bis 13 Jahre alt. Jeden Vor- und Nachmittag Unterricht. Jeden Tag zwei Stunden Latein, in der Woche 6 bis 8 Stunden Griechisch. Die Lehrstunden hatten 60 Minuten und nicht wie heute 35 Minuten. Es wurde gepaukt und — gelernt. Die Jungen machten damals genau soviel Unsinn wie heute, das geht aus dein Notizbuch hervor. Es wurde mancher Schabernack getrieben; es gab Lehrer, die man verehrte, und Pauker, die man verfluchte. An Kaisers Geburtstag, es war damals der alte Kaiser — am 11 März machte man einen Ausflug, und der Tertiarier notierte,: daß er ein Seidel Bier getrunken habe. Eine Maßbezeichnung, die man heute nicht, mehr kennt. Mit der Pferdepost fuhr man nach Heiligenstadt zum Onkel Hermann. Über die Kosten der Reise wird genau Buchgeführt, auch über das Gepäck, was man mitnahm. Das Haus in Heiligenstadt muß sehr groß gewesen sein, ich besaß ein Photo davon, ein langgestrecktes doppelstöckiges Haus mit einer Siebenfensterfront. Mit dem Abitur hat der Vater Schwierigkeiten gehabt er fiel durch und mußte das Abitur später nachholen. Von seinem Bruder, Onkel Gustav, weiß ich, das Durchfallen soll durch eine Schikane eines Lehrers verursacht worden sein. Das Schülernotitzbuch meines Vaters erwähnt weiter den regelmäßigen Besuch von Musikabenden — teils als aktiver Geiger, teils als Zuhörer. Der Vater soll ein guter Violinist gewesen sein. Während seiner Berliner Studentenzeit hat er gelegentlich einem Quartett mit dem s. Zt. berühmten. Geiger Joachim mitgespielt. Da muß er schon etwas gekonnt haben um in einem solchen Kreis mitzuwirken. Der.Vater studierte in Marburg und Berlin, zuerst ein Semester Medizin. Dort paßte er, als er eine Leichensezierung mitmachen mußte, und schaltete um auf Jura. Der Vorschlag seines Onkels Hermann, in eine Burschenschaft oder in ein Corps einzutreten lehnte der Vater ab, da ihm dies zu unmodern erschien (1876). Zwischendurch mußte er sein Jahr als Soldat abdienen und wurde vom Heer als Seconde-Lieutenant entlassen. Wie gut oder wie schlecht er seine Referendar- und Assessor-Prüfungen gemacht hat, weiß ich nicht. Unter den alten Papieren — jetzt vernichtet — fand ich zwei umfangreiche Bücher, handgeschrieben von meinem Vater — alles auf Latein — die Vorbereitungsarbeiten zu den eben erwähnten Prüfungen, Er wird Regierungsassessor in Düsseldorf, Regierungs- und Gerichts- Assessor in der Ausbildung gleich, unterschieden sich s. Zt so ungefähr wie bei der Armee Garde und Linie. Mein Vater hat dann einen Krach mit seinen Oberen gehabt, er muß eine Natur gehabt haben, die auf der einen Seite sehr loyal war, auf der anderen Seite alles andere als unterwürfig. Jedenfalls erklärte er, lieber in dem kleinsten Kaff Richter zu sein als Augendiener in einer Regierungslaufbahn. Kurzum er schied aus dem Regierungsdienst aus und schlug die Richterlaufbahn ein. Zuerst Genchtsassessor in Rheinberg, 1896 wird er Amtsrichter in Mönchengladbach. Mönchengladbach war damals ein unbedeutendes Textilstädchen, Von dort aus fuhr er häufig zu seiner Düsseldorfer Verwandtschaft, die ihn zu verheiraten versuchte, was sich aber .zerschlug. In Mönchengladbach lernt der Vater unsere Mutter kennen.— Clementine — von der Familie Klem oder Cly genannt, zweite Tochter des Gastwirts Jean Mertens und seiner Frau. Maria geb. von Elmpt. Sie heiraten am 8.9.1900, es muß eine große Hochzeit gewesen sein — mit allem, Drum und. Dran. Unter den hinterlassenen Papieren fanden sich noch stoßweise schriftliche und telegraphische Glückwünsche mit den Namen Pferdemenges, Croon, Herrn, Reiners — die damaligen Textil-Könige des Niederrheins, einer sehr schön gedruckten Hochzeitszeitung, Menu-Karten uswm. Die Hochzeit war auch für Gladbach eine kleine Sensation, der Richter Gerhardy war 44, die Braut 19 Jahre. So ganz d' accord war die Familie Gerhardy nicht mit der Heirat - aber nur zunächst. Beanstandet wurde — verständlich der Altersunterschied. Die 25 Jahre waren ja nicht zu übersehen, dann der Standes- und Bildungsunterschied, eine Sache, die damals eine gewisse Rolle spielte. Das erstere war ja nicht beiseite zu schieben, über das zweite kam man aber schnell hinweg. Meine - oder besser gesagt unsere Mutter, wir waren später zu vier Kindern — brachte nämlich etwas mit, was doch nicht allzu häufig war. Einmal ihre äußere Erscheinung, sie war eine auffallend schöne Frau, aber dann, was noch mehr beeindruckte waren ihr Charme und ihr Humor, beides Erbteile ihrer Eitern. So war sie immer ein gern gesehener Gast bei der Düsseldorfer Verwandtschaft wie auch bei ihrem Schwager Gustav und seiner Frau, unserer Tante Hanny, die sehr streng und wie die meisten Norddeutschen ein wenig schwerfällig waren. Cly, wie sie dort immer genannt wurde, verstand, die Familie aufzumöbeln. Ob die Ehe unserer Elterrn eine besonders glückliche war, vermag ich nicht zu behaupten. Der Altersunterschied wird sicher die Ehe beeinflußt haben.

Clementine Mertens

Clementine Mertens


Clementine Mertens
Ehefrau von Leopold

Meine Mutter kam durch meinen Vater in einen Kreis herein, den sie von Hause nur von weitem kannte. Ein Kreis mit vielen geistigen Interessen; sie hat ach dem sehnell angepaßt, mein Vater war wohl ein guter Lehrmeister. Daß man für den Besuch eines Theater- oder Konzert-Abends u. U. ein bis zwei Tage mit der Bahn reiste - für meinen Vater eine Selbstverständlichkeit —, war für meine Mutter ein Eintritt in eine neue Welt. Direkt nach seiner Heirat ging der Vater nach Trier, er war inzwischen Amtsgerichtsrat geworden. Als Richter hatte er ein hohes Ansehen, das ist mir später von Juristen, die ihn gut gekannt haben, wiederholt bestätigt worden. Die Trierer Zeit ist für unsere Eltern eine schöne gewesen, unsere Mutter erzählte immer begeistert davon. Die vielen Bälle in Trier und Metz, die schönen lothringischen Frauen, die Offiziere, das schöne Land, der Wein, der Vater sehr gastfrei - all das machte das Leben farbig und fröhlich. Aus einem Kassenbuch meines Vaters weiß ich, daß er ein Gehalt von 600 Mark monatlich hatte, dazu kamen die Zinsen seines Vermögens - etwa 500-Mark monatlich. Im Schnitt brauch­ten die Eltern 12.000 Goldmark, während der Trierer Zeit im Jahr, wobei das Vermögen nicht angegriffen wurde. Für damalige Zeiten ein hohes Einkommen. 1911 starb mein Vater, meine Mutter war dreißig, meine Schwester Mary war zehn, ich sechs und meine Zwillingsschwestern Grete und Marta drei Jahre. So haben die Kinder den Vater nur wenig oder kaum in Erinnerung. Ich kann mich nur an ein paar einzelne Vorgänge erinnern, meine Schwester Mary etwas mehr. Kurz nach dem Tode meines Vaters zog meine Mutter mit den Kindern nach Düsseldorf, um in der Nähe der Gerhardyschen Verwandtschaft zu sein. Der Bruder meines Vaters, Gustav Gerhardy, inzwischen wohnhaft in Spandau, kümmerte sich sehr um die Familie - in Sonderheit um mich — damals dem letzten Gerhardy. Von wem ich aber am meisten über meinen Vater erfuhr, und wer meinen Vater sehr geschätzt hat, war sein Schwager, der Bruder meiner Mutter - Theodor Mertens. Er hatte ihn in .Mönchengladbach während vier Jahre erlebt, mein Vater war Veranlassung, daß Theodor Mertens nach England zu seiner Ausbildung ging, und sicher wäre es gewesen, wenn unser Vater länger gelebt hätte, Theodor Mertens hätte eine bessere Laufbahn ergriffen. Theodor Mertens hat mir viel über unseren Vater erzählt, daß er neben seiner Strenge ein recht fröhlicher Mann war, Sinn für einen guten Streich hatte. Er ist häufig in Trier bei meinem Vater zu Gast gewesen. Die Eltern unserer Mutter — Großvater Jean Mertens und Großmutter Maria - habe ich beide noch in guter Erinnerung. Großmutter Maria Mertens starb relativ früh — Neujahr 1914 — 58 Jahre. Großvater Mertens 16 Jahre später - 75 Jahre alt. Die Großeltern hatten früh geheiratet. Jedenfalls der Großvater mit 21 und die Großmutter mit 20. Das großväterliche Haus war ein altes niederrheinisches zweistöckiges Bauernhaus mit einer 5-Fensterfront. Die Mauern waren Feldbrandsteine — zur Regenseite weiß gekälkt, ein Anstrich, der alle zwei Jahre erneuert werden mußte. Hinter dem Haus war ein großer Saal der für Vereinsfeste diente, dahinter wieder Stallungen und Scheune. Rechts neben dem Haus war ein großer Garten; am Haus eine große offene Terrasse. Der Türeingang war in der Mitte der Vorderfront. Rechts war das lange Zimmer, die Stube für die ,,Herren", links zwei Gaststuben mit gescheuerten Tischen, wo die ,,einfachen Leute" saßen. Der Abschluß der vorderen Gaststube bildete eine halbkreisförmige Wand aus in Messingrahmen gefaßten Butzenscheiben. Dahinter war die Theke mit Zapfhähnen, Gläsern usw. Das Ganze hatte einen Hauch von Deftigkeit und Behaglichkeit. Die Wirtschaft war in ihrer besten Zeit eine Goldgrube. Um 5 Uhr morgens wurde schon geöffnet, und die zur Arbeit gehenden Leute holten ihren Buddel Schnaps. Großmutter Mertens war wohl die Seele des Geschäfts, eine hervorragende Wirtin, beherrschte Küche und Keller und hielt den Daumen auf der Kasse. Beide Eheleute verstanden mit ihren Gästen umzugehen. die Mertens'sche Gastwirtschaft gehört zu den frequentiertesten der Stadt Mönchengladbach; was Namen und Klang in der Stadt hatte verkehrte bei Mertens. Ich sehe meinen Großvater noch vor mir. Im blauen Anzug, der Rock wie ein Cut geschnitten, eine goldene Uhrkette, nie ohne Zigarre. Er - wie sein Sohn Theodor — waren gute Erzähler. Der Großvater war verschiedentlich in England gewesen, und wenn er davon erzählte, war das für mich wie eine Jules-Vernes Geschichte. Damals konnte man noch über Reisen erzählen, und man konnte sich aus der Erzählung ein Bild machen. Heute wird tausendmal mehr gereist. Außer über den Übernachtungs- und Kotelett-Preis wissen die Reisenden nichts über das Land, in dem sie angeblich gewesen sind. An die Küche des Hauses erinnere ich mich auch — besonders an einen Herd von gewaltigen Ausmaßen und an einen Eckschrank - ein rheinischer Barockschrank mit sehr schönen Holzarbeiten und Butzenscheiben. Der Schrank, der heute ein Museumstück sein würde, ist 1944/45 den Weg alles Irdischen gegangen. Das Gasthaus mit seinen unzähligen Nebengelassen, Räumen usw. wurde durch einen Bombenangriff völlig zerstört, Nachder Zerstörung ist alles eingeebnet worden. Dort, wo Gasthaus, Saal, Stallung und Scheune standen, ist jetzt ein großer Verkehrsknotenpunkt mit Ampeln usw. Wenn jemand aus der Familie durch Gladbach mit dem Auto fährt, kreuzt die Ecke Viktoria- und Flieth-Straße, dort von der Ecke bis zum Bahndamm stand das elterliche Haus unserer Mutter. Die Großeltern Mertens, ihr Sohn Theodor, mein Vater, sein Schwager Ludwig Ross und sein Neffe Willi Ross liegen in Gladbach begraben. Die Grabstätte gehört zur Hälfte mir und zur Hälfte Yvonne Ross, der Witwe von Willi Ross. Was für die Familiengeschichte interessant ist, es existiert noch eine Grabstätte aus der Familie meiner Großmutter, der Familie von Elmpt, ein Erbbegräbnis. Das liegt in dem in den 20er Jahren zu einem Park gemachten städtischen Friedhof in der Nähe der Mönchengladbacher Kaiser-Friedrich-Halle – Vielleicht so 100/200 m von der Halle entfernt, Unter einigen Zwergkiefern liegt versteckt eine Grabplatte der Eltern der Großmutter Mertens geb. von Elmpt.

Maria Mertens geb. v.Elmpt


(Grossmutter)Maria Mertens
geb. v.Elmpt 1.1.1856 - 1.1.1914

Die von Elmpt's stammen aus dem bekannten deutsch-niederländischen Grenzort Elmpt. Es muß eine große Familie gewesen sein — groß, was mehr zahlreich heißt. Sehr tüchtig müssen sie nicht gewesen sein, denn vor mehr als 100 Jahren haben sie ihren großen Landbesitz aufgeben müssen. Das Gutshaus, „Haus Elmpt", ein altes Wohnhaus, steht unter Denkmalschutz. Die Familie hat sich dann in alle Winde verstreut, und ein Zweig ging nach Gladbach, wo - Ahnenforschung bringt auch Überraschungen hervor — mein Onkel Theodor in einer Chronik lesen konnte, daß die von Elmpt's als „Proletarier" das ehrsame Geschäft eines Metzgermeisters betrieben. Niemand hat sich mehr über diese Feststellung amüsiert wie mein Onkel Theodor und sein Vetter Norbert von Elmpt. Norbert von Elmpt, seines Zeichens gut verdienender Industrievertreter, war ein beliebter Mann, ein vorzüglicher Unterhalter und konnte, wenn er es drauf hatte, nur vor Witz sprühen. Er starb vor 10 oder 15 Jahren als hoher Siebziger. Nun gibt es am Oberrhein und in Süddeutschland noch manche von Elmpt's. Das erzählte mir der Bürgermeister von Elmpt. Er hatte vor wenigen Jahren einen Antrag bekommen — vom Oberrhein oder aus der Pfalz. — wonach eine Schnapsbrennerei ihren Schnaps mit einem besonderen Etikett ausrüsten wollte. Das Etikett sollte das Wappen derer von Elmpt erhalten und damit den Verbrauchern vorgaukeln, daß dieser Schnaps aus einer uralten Schnapsbrennerfamilie stamme. Der Antrag wurde mit Recht abgelehnt. Die Elmpt's in Elmpt sind alles mögliche gewesen, Schnaps haben sie nie gebrannt. Am 17.3.1941 starb in Berlin unsere Mutter, knapp 60 Jahre. Es ist nun Sache meiner Geschwister und meiner Kinder, die Chronik zu ergänzen, fortzusetzen, wie es in ihrem Sinne ist. Sie sollten das für ihre Kinder tun. Ein Bild des Grossvaters existiert leider nicht mehr. Das Bild der Grossmutter ist ein auf Pappe gemaltes Oelbild, im Original dunkler als das Photo. Der Maler, ein Gast des Hauses Mertens, soll seine Zeche schuldig geblieben sein und als Ausgleich dieses Bild gemalt haben. Jedenfalls ist der Gesichtsausdruck so, wie ich unsere Grossmutter in Erinnerung habe. Wer der Maler war, weiss ich nicht.