Leo Gerhardy an Thessy Becker geb. Gehardy

5142 Hückelhoven Krs. Heinsberg, den 5.3.1975
Am Steinacker 19'
Telefon 0 24 33-2938
Liebe Thessy!
Zunächst meinen herzlichen Dank für deine lieben Glückwünsche zu meinem Geburtstag, über die ich mich sehr gefreut habe. Du klagst über Dein Gedächtnis, immerhin Du, treue Seele, vergisst meinen Geburtstag nicht, während ich Deinen überhaupt nicht weiss. Gestern hatte Deine Mutter Geburtstag, als Kadett musste ich ihr immer einen Brief schreiben. Das Briefschreiben war damals so'ne Sache - mehr eine Auf­gabe. Was konnte man schon als Ten schreiben. Onkel und Tanten waren Respektspersonen, man hatte sie gern, denn sie taten einem viel Gutes. Das Schönste war, dass sie einem was erzählen konnten, wie es einmal früher gewesen war, und dann stieg eine Welt auf - von Rei­tern, Segelschiffen, abenteuerlichen Reisen. Was konnte ich dagegen erzählen. Die Kunst des Briefeschreibens ist zum Teufel gegangen, die des Erzählens auch. Die Welt ist farbloser geworden, - scheusslicher es gibt keine Heiligtümer, keine Tabus mehr. Die Kritiker werden grösser und mächtiger, die Schaffenden kleiner und bescheidener. Doch ab und zu findet sich noch Veilchen im Verborgenen, und dann freut man sich um so mehr. Um mich einigermassen fit zu halten, mir schmeckt es noch immer - eigentlich zu gut, bin ich viel mit dem Rad unter­wegs- heute vormittag zweiundhalb Stunden. Das tut mir sehr gut, bin mit meinen Gedanken allein, erfreue mich an jedem blühenden Baum. Und so habe ich- auch heute über meinen Geburtstag nachgedacht. Siebzig - ist ja ein Ende, wobei ich hoffe, solange ich noch so auf Draht bin, das Ende noch eine Weile sich hinzieht. Ich kann also meinem Herrgott dankbar sein - und meiner Frau, die einmal geduldig ist, mich ohne jeden Erfolg versucht zu einem besseren Menschen zu erziehen, die versteht,jeden Tag ein Festmahl zu bereiten. Ganz egal, ob es eine Linsensuppe ist oder ein grosser Braten, man isst immer mit Genuss. Meine Frau hat an meinem Geburtstag viel Arbeit. 37 Gratulanten waren hier, und Wir konnten einen Blumenhandel anfangen. Dafür haben die Leute allerhand Schampus getrunken, was auch sein muss. Man hat mich mit geistiger und flüssiger Nahrung reich beschenkt, und ich habe jetzt viel Arbeit, um mich überall zu bedanken. Aber das tue ich gern. Teils schreibe ich mit der Hand, wenn es sich nur um wenige Zeilen handelt. Längere Schreiben per Maschine, damit man es auch lesen kann. Wie vergesslich ich selbst bin, siehst Du an diesem Brief. Ich wollte Dich nämlich fragen, wann Du Geburtstag hast, was hiermit geschieht. Von unseren Australieren haben wir gute Nachrichten. Johanna scheint recht glücklich zu sein. Ihr Haus ist ebenerdig, ziemlich gross mit einem einen Morgen grossen Grundstück. Die Familie meines Schwieger­sohns ist ja ein grosser Clan, vier Geschwister, drei davon verheira­tet mit x Kindern. Schon all die Namen sind ein Telefonverzeichnis. Die Briefe Johannas klingen alle sehr fröhlich, der Clan scheint sie gut aufgenommen zu haben. Was uns sehr befriedigte, war ein Brief ihrer Schwiegermutter, die eigentlich in der grossen Familie ein sanftes aber bestimmtes Regiment führt, sie hat: viel Humor und ist von Hause sehr fröhlich. Sie schätzt Johanna sehr und ist zufrieden, dass ihr Sohn Wolfgang Johanna zur Frau erwählt hat. Das ist doch sehr wichtig. Wenn man heiratet, und die Ehe soll einigermassen glücklich werden, heiratet man die Familie mit. Wenn man sich mit der Fa­milie nicht versteht, wird meist aus einer Heirat ein fauler Zauber.
Augenblicklich ist Christa mit ihren zwei Kindern hier. Es sollte ein schöner Aufenthalt für die Enkel werden, jetzt ist Georgos krank, viel­leicht Masern, die kleine Sophia so halbe Erkältung. Das ist natürlich nicht schön, verdirbt das grosselterliche Konzept. Mal hohes Fieber, dann wieder keins, dann knatschen sie, um paar Minuten später zu sin­gen. Aber essen tun sie, bei Oma schmeckt es immer. Ausserdem Oma schimpft nie, erzählt immer neue Geschichten. Für ihre Enkel tut sie alles.
Nun möchte ich mich noch bedanken - im Namen Johannas, ich werde ihr dieserhalb schreiben - wegen der goldenen Brosche Deiner Mutter, meiner Tante Hanny. Ich kann mich zwar an diese Brosche nicht mehr erinnern, sicher habe ich sie einmal gesehen. Aber die Tatsache der beabsichtig­ten Schenkung hat mich erfreut, als ob ich sie bekäme. Ob ich in abseh­barer nach Australien reisen werde, weiss ich noch nicht genau; dann würde ich die mitnehmen. Goldsachen schicken ist, glaube ich, nicht ratsam. Ich kenne auch nicht Einfuhrvorschriften nicht. Aber darüber können wir noch einmal reden. Wenn Du Johanna selbst schreiben willst, nach/stehend die Adresse: Mrs.Johanna Steiniger
995 Mountain Highway
Boronia 5155 /Vic.
Australia
Nochmals schönen Dank - und gute Besserung; sorg, dass Du wieder gesund wirst.


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