Geheimen Reg.Rats Leopold Gerhardy

1816 - 1884

Versuch einer Biographie

Von meinem Großvater Karl Heinrich Leopold Gerhardy haben drei Tagebücher, ein Briefwechsel mit seiner Verlobten und späteren Frau und mit seinen Brüdern Heinrich und Hermann Gerhardy, existiert. Den Briefwechsel habe ich zum Teil gekannt, er enthielt nicht viel Interessantes, erzählt von Begegnungen im Düsseldorfer Malkasten, Breidenbacher Hof, mit seiner Braut korrespondiert er über Verwandte, Hausrat beschaffungen, kleinen Krankheiten, und in der schönen Sprache des vergangenen Jahrhunderts werden Zärtlichkeiten und Besorgnisse über Gesundheit ausgetauscht; es war reizvoll, all das nachzulesen, aber doch nicht so von Bedeutung, dass die Nachwelt unbedingt davon wissen mußte. Die Tagebücher sollen im Besitz meiner Mutter gewesen sein, was ich aber nicht glaube, denn ich hätte bestimmt davon gewußt. Wer sie gelesen hat, ist meine Cousine Thessy Becker, Tochter des Generals Gerhardy, jüngster Bruder meines Vaters. Wohin die Tagebücher gekommen sind, weiß der liebe Himmel. Jedenfalls sind sie für mich nicht auffindbar. Der oben erwähnte Briefwechsel ist bei Kriegsende verlorengegangen. Ich weiß einiges aus dem Leben meines Großvaters aus der mündlichen Überlieferung, aber das ist nicht allzuviel. Gegen mündliche Überlieferung soll man etwas mißtrauig sein. Mündliche Überlieferung nimmt immer, ob sie will oder nicht, etwas von dem Charakter des Erzählenden an. Das braucht nicht schlecht zu sein, im Gegenteil, es gibt der Sache oft mehr Barbe. Aber wenn der Erzähler seine Geschichte von einem Erzähler hat, und der wieder diese Geschichte von einem dritten Erzähler hat und sofort, dann ist das schon so eine Sache. Die Farbverteilung stimmt nicht mehr, Akten, Briefe, Tagebücher, die um den Zeitpunkt des erzählter Geschehens niedergeschrieben worden sind, haben meist etwas Zuverlässigeres, obwohl auch da gelogen werden kann. Thessy Becker, die die Tagebücher gelesen hat, erinnert sich, und die Erinnerung ist fünfzig Jahre oder älter, daß zwei der Tagebücher ziemlich langweilig gewesen sein sollen, sie hätten nur über gemachte und empfangene Besuche, über häusliche Dinge, über das, was bei dieser oder jener Gelegenheit zu essen gab, berichtet.


In einem Tagebuch hätte allerdings einiges Interessante gestanden, das wäre die Zeit 1848 - 1851 gewesen. Hier wäre die Not, in der sich der Großvater damals befand, sehr deutlich zu spüren gewesen. Aber nach einem halben Jahrhundert das wieder zu rekonstruieren, was man gelesen hat, Ist ein schwieriges Beginnen. Daß dem aber so gewesen ist, davon bin ich überzeugt. Der Großvater erhielt bei seiner Taufe neben seinem Rufnamen Leopold zwei weitere Namen: Karl und Heinrich. Karl nach seinem Großvater, dem Stadtschultheiss Hoffmann, Heinrich nach seinem Vater, dem Hofrat Gerhardy. Der Rufname Leopold stammte von seinem Taufpaten Leopold v. Kaisenberg. Das zu erzählen, erscheint unwichtig. Aber NOMEN EST OMEN. Ich werde nun weiter in meinem Familienbericht nicht mehr von meinem "Großvater" erzählen, sondern von dem Karl Heinrich Leopold Gerhardy, kurz Leopold Gerhardy, das ist für mich einfacher. Der Hofrat Gerhardy, Schwiegersohn des Duderstädter Stadt- schultheissen Hoffmann, hatte zehn Kinder, fünf Söhne und fünf Mädchen. Zwei Söhne und eine Tochter verstarben früh, im Kindesalter. Leopold Gerhardy war das vierte Kind und der zweite Sohn des Hofrats, ist am 27. Januar 1816 in Heiligenstadt im Eichsfeld geboren worden, wo m.W. der Hofrat als Domainenverwalter im Auftrag des Bischofs von Mainz tätig war. Der Hofrat und seine Frau, wie auch sein dritter Sohn, der spätere Richter Gerhardy und dessen Frau Rosalie (Sally) Stein, liegen dort begraben. Meine Cousine Thessy war 1927 in Heiligenstadt und hat die Gräber besucht. Ob sie heute noch existieren, weiß ich nicht. 1816 war Heiligenstadt preußisch, vierzehn Jahre vorher war es noch kurmainzisch gewesen. Und der Hofrat, 1780 in Gieboldehausen geboren, war ursprünglich kurmainzischer Untertan.


Das Eichsfeld zerfällt in zwei Teile, das obere und untere Eichsfeld. Hauptstadt des oberen Eichsfeld ist Heiligenstadt, des unteren ist Duderstadt. Oberes und unteres Eichsfeld gehören zusammen wie siamesische Zwillinge, und beide Eichsfeld haben die Erfahrung machen müssen, daß man sie gewaltsam trennte. Kam nach dem Luneviller Frieden 1802 das ganze Eichsfeld für gut vier Jahre nach Preußen, wurde unter Napoleon das untere Eichsfeld mit Duderstadt westfälisch-französisch, das obere Eichsfeld blieb preußisch. Auch nach dem Wiener Kongress blieb die Teilung bestehen, nur statt des Königs Jerome wurde das untere Eichsfeld mit Duderstadt vom englischen König bzw. von den Hannoveranern regiert. Der Stamm Gerhardy, in Gieboldehausen (im unteren Eichsfeld) zahlreich vertreten, gehörte praktisch dem britischen Weltreich an, ihre Vettern saßen in Preußen. Erst 1866 änderte sich das, das untere Eichsfleld kam zu Preußen, und jetzt konnte der alte Verband unteres und oberes Eichsfeld wieder aufleben. Die Trennung zwischen unteres und oberes Eichsfeld war eine besonders schmerzliche während der Franzosenzeit, denn da war im Eichsfeld die Grenze zwischen zwei sich nicht wohlgesinnten Mächten Frankreich und Preußen. Merkwürdig, dass das Spiel sich wiederholt. Heute haben wir wieder die Grenze. Osten und Westen. War damals der Grenzübertritt sicher auch an gewisse Formalitäten gebunden, so betrat der Reisende beim Grenzübertritt nicht eine fremde "Welt. Gewiß, es gab Differenzen, aber sie waren nicht so von Bedeutung. Heute wirkt der Grenzübertritt beim Reisenden eine Beklemmung aus, die bis dato noch kein Entspannungspolitiker beim einfachen Mann hat ausschalten können.


Aber zurück zum Duderstädter Bürgermeister und seinem Enkel. Ich erzähle das Ganze ja nur, um zu beweisen, dass die Altvorderen keine dolce vita führten. Manchmal sieht das so aus. Vor allem, wenn man die alten Bilder betrachtet. Die geschmackvolle Kleidung, die blauen Fracks, gelbe Westen, Reifrocke, Puffärmel, das sieht schön aus. Und wenn man Duderstadt sieht - mit seinen gepflegten Fachwerkhäusern, den anheimelnden Gassen, den freundlichen Plätzen, und sieht auf alten Stichen Düsseldorf mit seiner Rheinfront, dem schiefen Lambertusturm, dann möchte man um diese Zeit gelebt haben. Die Bilder aus dieser Zeit täuschen - nicht bewußt aber unbewußt. Photographie kannte man noch nicht. Also ließ man sich malen, und Malen, auch des einfachsten Konterfei, brauchte Zeit und Geld. Zeit und Geld hatte man nur dann übrig, wenn es einem einigermaßen gut ging. Im Elend ließ sich keiner malen. Das Eichsfeld ist eingerahmt von Geschichte - Historie, Geschichte - uralt, deren Auswirkung wir heute noch verspüren. Im Westen Verden a.d.Aller, Hinrichtung von 3000 Sachsen. Die christliche Liebe wurde mit Feuer und Schwert den Niedersachsen beigebracht. Über 1000 Jahre her aber nicht vergessen. Im Osten Eisenach, Wittenberg, Wartburg, Plätze, von denen eine Bewegung aus ging, die Europa, das Abendland geändert hat. Über diese Dinge hat Leopold Gerhardy sicher viel gewußt, einmal aus der Gegensätzlichkeit, er gehörte zu den wenigen Katholiken innerhalb der vielen Protestanten. Damals wußte man viel mehr über seine engene Heimat. Das war natürlich, denn man war der Heimat deswegen mehr verbunden, weil man nicht so mobil war wie heute. Das Wandern von einem Platz zum anderen hat oft ökonomische Gründe und mindert naturgemäß das Heimatgefühl. Ich möchte annehmen, dass Leopold Gerhardy seinen Großvater noch gekannt hat, und der Großvater Hoffmann sich auch für ihn interessiert hat. Es muß ja eine besondere Beziehung gewesen sein, zwei seiner Vornamen stammen aus der Hoffmann’sehen Familie.


Dreizehn Jahre war Gerhardy alt, als der Hoffmann’sehe Großvater starb, und er wird von der Franzosenzeit des Eichsfeldes gehört haben. Es wird ihm bewußt gewesen sein, dass die Heiligenstädter erst wenige Jahre Preußen waren, und dass die Gieboldehausener und Duderstädter Verwandtschaft nunmehr Hannoveraner und damit britische Untertanen waren. Das Faktum der verschiedenen staatspolitischen Zugehörigkeiten innerhalb eines größeren Familienkreises wird für den jungen Gerhardy kein Grund zu einer schlaflosen Nacht gewesen sein. Der Wechsel von einer Zugehörigkeit in die andere hatte eine machtpolitische Ursache, auf die der einzelne wenig oder gar keinen Einfluß hatte und war selten mit einem Ortswechsel verbunden. Man stellte sich auf den neuen Landesherrn jeweils ein, und es war Sache des Landesherrn, seine neu gewonnenen Untertanen an sich zu binden. Das politische und psychologische Geschick des neuen Landesherrn und seiner Beauftragten war hier von entscheiden der Bedeutung. Und die Preußen waren damals nicht ungeschickt darin. Wenn auch Friedrich Wilhelm III. und der IV. gerade keine sehr attraktiven Könige waren, verfügten sie doch über zwei Personenkreise, die für den Staat von größter Bedeutung waren, ein vorbildliches Offizierskorps und eine unbestechliche Beamtenschaft, dem anzugehören größte Ehre bedeutete. Beide wurden miserabel bezahlt, was ihrem Ansehen wenig Abbruch tat. Dazu kam die religiöse Toleranz, eine einigermaßen zuverlässige Rechtsprechung. Die Folter hatte Friedrich II. schon kurz nach seiner Thronbesteigung abgeschafft. Dinge, die damals als unerhört fortschrittlich galten. Preußen war der erste Staat, der die Schulpflicht für die gesamte Bevölkerung einführte. Seine Berliner Universität mit Humboldt gehörte zu den führenden Europas.


Bei allem strengen Regiment, das in Preußen herrschte, ging von diesem Staat eine Fascination aus, der wie ein Magnet gute und beste Leute an sich zog. Viele von den maßgebenden Männern Preußens waren keine geborenen Preußen, sondern stammten aus allen Gegenden Deutschlands, manchmal aus den Nachbarländern wie Frankreich oder Dänemark. Innerhalb Deutschlands war seit den Befreiungskriegen Preußen das Land der Zukunft, die anderen 37 deutschen Staaten besaßen nicht im entferntesten den Elan, der in Preußen herrschte, was nichts daran änderte, dass Preußen gelegentlich enorme Fehler machte. Preußen hat praktisch 1918 aufgehört. In dem Augenblick, wo die geistige Klammer, die die Franzosen mit dem Ausdruck "travailler pour le Roi de Prusse", was für die Franzosen heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun, fortfiel, war Preußen nicht mehr. 1829/1830 dachte noch niemand an diese Dinge, und die Menschen waren beeindruckt von diesem jungen Staat. 1817 hatte nicht weit vom Eichsfeld auf der Wartburg ein Fest der Jenaer Studenten stattgefunden, das Fest sollte an die Reformation und an die Völkerschlacht von Leipzig erinnern, dabei wurden einige revolutionäre Reden gehalten und die schwarz-rot-goldene Fahne gehisst - die Farben des alten deutschen Reiches. Eine der Folgen dieses Festes war die berühmte Polizei-Aktion Metternichs, die viel Blut machte. Der junge Leopold Gerhardy hat davon nichts gewußt, er war gerade ein Jahr alt. Aber bestimmt hat sein Vater viel davon gewußt, der war damals 36 Jahre. Fünfzehn Jahre später wiederholte sich das Fest - wenn auch in anderer Form. Am 27.5.1832 hielten Jacob Siebenpfeifer und der Professor Joh.Gg.Aug. Wirth ihre berühmten Reden auf der Hambacher Burg; 30 000 Menschen, meist junge Leute, Studenten, Handwerker sind zugegen gewesen, und die Reden klangen in einem Hoch auf die "Conföderierten Republiken Europas" unter Hissen der schwarz-rot-goldenen Fahne aus.


Die Fahne, völlig verblichen, steht heute im Plenarsaal des Mainzer Landtags. Der Redner Wirth (Urgroßvater meines Freundes Frederic de Fries in Caracas), wurde ein Jahr später in Landau von einem Schwurgericht vom Hochverrat freige sprochen, deswegen hatte man ihn angeklagt, aber wegen Beamten- und Fürstenbeleiligung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Er verlor seine Professur, und die Not war so groß, dass seine Frau für ihren Sohn und sich auf dem Markt betteln mußte, um zu überleben. Wer wider den Stachel lockte, riskierte seine bürgerliche Existenz, unter Umständen noch mehr. 1832 war Gerhardy 16 Jahre alt. Inwieweit er von diesen Dingen gewußt hat, weiß ich nicht. Aber so was ließ sich kaum verschweigen. Ob der Hofrat pro oder contra war, ist mir nicht bekannt. Einmal war er hoher Beamter, und zum anderen kam seine Lebenserfahrung, die ja ein Auf und Ab der politischen Verhältnisse zu oft erlebte. So kann es sein, dass er gar keine Stellung bezogen hat. Seine Frau wußte sicher von ihrem Vater, dem Duderstädter Stadtschultheissen, genug über das Hin und Her in der Politik. Wie die Eltern den jungen Gerhardy erzogen haben, welche Schule sie ihn haben besuchen lassen, auf welche Universität sie ihn geschickt haben, darüber habe ich nichts ermitteln können. Den ältesten Sohn, sechs Jahre älter als Leopold Gerhardy, hatte der Hofrat nach Hagen aufs Gymnasium geschickt, dort machte Heinrich, so hieß der Älteste, sein Abitur, trat dann ins Friedrich-Wilhelm-Institut (Berlin?) ein, machte dort sein Staatsexamen, 1834 promovierte er als Dr.med. und ließ sich 1839 in Düsseldorf als Arzt nieder; seine Praxis florierte, er wurde Chefarzt des Düsseldorfer Theresienhospitals, Stadtverordneter, und war ein geachteter Arzt. Welche Gründe den Hofrat veranlaßt hatten, seinen Ältesten ausgerechnet nach Hagen auf die Schule zu schicken, ist mir unbekannt. Hagen - damals sehr pietistisch, evangelisch. Vielleicht war die Schule besonders gut.


Mit den Schulen war es damals genau wie heute, eine Glückssache. Das Maximum der Schulen war dem Klerus unterstellt, und es wurde fleißig Latein, Griechisch und Hebräisch gelehrt und gelernt; Naturwissenschaften wurden stiefmütterlich behandelt. Einer der wichtigsten Schulmeister war der Stock. Natürlich gab es Ausnahmen, und es war Sache aufgeschlossener, verantwortungsbewußter Eltern solche Ausnahmen ausfindig zu machen. Es kann sein, dass Leopold Gerhardy die Schule in Heiligenstadt oder in Duderstadt besucht hat, beide unterstanden dem Bischof, weswegen sie nicht schlecht zu sein brauchten. Den Weg1, den Gerhardy und seine Brüder später einschlugen, deutet nicht darauf hin, denn sie betonten immer ihre geistige Unabhängigkeit, und das wird in den klerikalen Schulen nicht gerade gelehrt. Auch weiß ich nicht, wann und wo Gerhardy seinen Referendar gemacht hat, und welches die Veranlassung war, dass er als Regierungsassessor nach Düsseldorf kam. In Düsseldorf war der ältere Bruder angesehener Arzt, es war eine schöne, reiche Stadt, hatte eine berühmte Kunstakademie, gutes Theater (Immermann), gute Musik (Schumann), eine Künstlergesellschaft, den Malkasten; also es hatte schon seinen Reiz für einen jungen Mann aus dem Eichsfeld, das bieder, provinziell und langweilig war, nach Düsseldorf zu gehen. Wann er genau in Düsseldorf angefangen hat, versuche ich theoretisch zu ermitteln, das kann 1842 gewesen sein, dann wäre er in Düsseldorf Referendar gewesen. Kann aber auch später sein. Seit 1847 ist er verlobt. Die in meinem Besitz befindlichen Schwarz-weiss-Porträts, gemalt von einer Maria Klein, tragen die Jahreszahl 1847. Die Porträts stellen Leopold Gerhardy und seine Braut Adele BrUggernann dar. Er 31, sie 22 Jahre. Adele ist die Tochter eines hohen Beamten, des Stralsunder Geheimrats Brüggemann und evangelisch. Mischehe! - Das war etwas vor 140 Jahren. Ein unendlicher Gesprächsstoff für Klatschweiber beiderlei Geschlechts.


Gerhardy war Regierungsassessor und als solcher Mitglied des Düsseldorfer Regierungskollegiums, dessen Vorsitz der Regierungspräsident Freiherr v. Spiegel innehatte. Das Kollegium bestand aus einem bis anderthalb Dutzend Geheimräten, Oberregierungs- und Regierungsräten und Regierungsassessoren. Je nach Lage der Dinge tagte das Kollegium täglich, wöchentlich, und man hatte das Bestreben, Beschlüsse gemeinschaftlich herbeizuführen, was nicht hinderte, dass der Regierungspräsident die ausschlaggebende Stimme hatte. Die Beschlüsse waren mehr oder minder geheim, ein Mitglied des Kollegiums konnte, wenn er wollte, und er mit einem Beschluss nicht einverstanden war, dies aktenkundig machen, und wenn er weiter gehen wollte, auf dem vorgeschriebenen Dienstwege bei seinen Oberen Protest einlegen. Zu Kontroversen innerhalb des Kollegiums kam es 1848 mit schwerwiegenden Folgen für sechs Mitglieder des Kollegiums, u.a. für den 32-jährigen Assessor Gerhardy. Was war die Ursache? 1832/1833 hatte der Professor Wirth bereits zu einer Steuerverweigerung aufgerufen. Die Höhe der Steuern, die Verwendung ihrer Erträge sollte nur das vom Volk gewählte Parlament bestimmen dürfen. 1848 kam es allenthalben zu Unruhen, sie flackerten unregelmässig auf - mal in Berlin, Köln, Frankfurt, Mainz, Trier, Aachen und nicht zuletzt in Düsseldorf. Truppen wurden hin- und hergeschoben, es kam zu Schießereien, Verhaftungen, Verwundeten und Toten. Die Stimmung im Land war gespannt, gereizt. Der König hatte sich in Berlin nicht gerade glorios benommen, halbherzige Versprechungen gemacht, sie dann nicht eingehalten. Dem Druck von allen Seiten, den Einflüssen verschiedenster Art nicht gewachsen, er war kein starker Mann, und deswegen kam es auch zu falschen Maßnahmen. Bezeichnend ist ein Wort aus dieser Zeit. Bismarck, der damals noch nicht die


große Rolle spielte, war beim König vorstellig geworden, als er die Königin vorher im Schloßpark antraf, sie ihn ansprach: "Der König hat seit Tagen nicht geschlafen", er schroff erwiderte: "Ein König muß schlafen können". Karl Marx, Sohn eines preussischen Justizrats, Schwager eines preussischen Ministers, forderte mit großer Schlagzeile in seiner von ihm 1842 gegründeten Rheinischen Zeitung (Organ der Demokratie) wiederholt Keine Steuern mehr! Was war geschehen? Am 22.5.1848 wurde die konstituierende Versammlung in Berlin eröffnet - vielfach Berliner Nationalversammlung genannt und nicht zu verwechseln mit der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Die Berliner Versammlung mit einem erheblichen Linkstrend beschloß am 16.10.1848 Abschaffung des Gottesgnadentums, Adels usw. Es kam zu Unruhen, Konflikten zwischen Bürgerwehr und Arbeiterschaft, der König entließ das alte Ministerium und bestellte den Grafen v. Brandenburg als Minister. Dieser verlegte die Nationalversammlung nach dem Ort Brandenburg, vertagte sie zunächst bis 27.11.1848. Die Versammlung beschloß dagegen ihre Beratungen fortzusetzen. Am 10. November ließ General Wrängel das Sitzungslokal militärisch besetzen, die Versammlung zog von Ort zu Ort und bei ihrer letzten Zusammenkunft kam es zu dem Beschluß, dass das Ministerium nicht berechtigt sei, Steuern zu erheben. Dieser Beschluß wurde in der Öffentlichkeit kritisiert - teils positiv, teils negativ, je nachdem in welchem Lager man stand. Tatsache ist, dass er von der Frankfurter Paulskirche s.Zt. als ungesetzlich verworfen wurde. Es kam eine Anzahl Rechtsfragen auf. War die Versammlung überhaupt beschlußfähig, hatte sie die erforderliche Mehrheit? War doch ein großer Teil dieses Parlaments gar nicht bei diesem Beschluß zugegen. Eine Lösung dieser Streitfrage - bei ruhiger Überlegung durchaus findbar - war in dieser gereizten Stimmung nicht möglich. War die Verlegung der Versammlung nach Brandenburg rechtens? Ihre Vertagung? Man muß immer daran denken, in welcher Stimmung so etwas geschieht.


Natürlich entzündete sich der gleiche Streit auch auf den niedrigeren Regierungsebnen in der Provinz, in den größeren Städten. Und manche waren bemüht, hier ihr eigenes Süppchen zu kochen. Bei ernsthafter Überlegung mußte sich ja jeder sagen, eine Steuerverweigerung durch die Gesamtheit des Volkes war das Ende jeder Regierung. Kein Geld - kein Staat! In einer solch angespannten Zeit überschlagen sich die Nach richten, falsche, richtige, v/ahre, unwahre, halbwahre. Jede Nachricht hat einen Effekt, schlecht oder gut und steigert die Erregung der Öffentlichkeit, die sich letzten Endes auch in dem Düsseldorfer Regierungskollegium nieder- .schlägt. Was so draußen beim Volke passierte, darüber war Gerhardy informiert. Sein Bruder, der Arzt, war Stadtverordneter und Offizier der Bürgerwehr, die unter ihrem Kommandanten Gantador im Gegensatz zu der Regierung stand. Die Bürger wehr und manche andere maßgebliche Organisationen, wie Bauern-Verband, waren für die Steuerverweigerung. Natürlich wurde das im Regierungskollegium besprochen, diskutiert. In dem Kollegium saßen hochqualifizierte Beamte. Sechs Beamte einschließlich des Assessors wollten, um unnötigen Palaver zu vermeiden, eine Sistierung der Steuer erreichen, paar Beamte drückten sich pflaumenweich aus, paar nahmen gar keine Stellung ein, und der Regierungs präsident Freiherr v. Spiegel wollte in jedem Fall auf der richtigen Seite stehen. Spiegel wär ein intelligenter Mann, gerissen in seinen Antworten. Er war nicht leicht zu fangen. Sein nächster Adlat war der Regierungsrat' Freiherr v.Mirbach, dem die Polizei unterstand, kein angenehmer Typ. Die Dis kussionen oder besser gesagt die Dispute innerhalb des Kollegiums fanden in der 2. Hälfte November 1848 statt. Sie endete*am 25. November und in der Kölnischen Zeitung No. 316 vom 25.11.1848 war zu lesen:


"Düsseldorf, 24. November, mittags 1 Uhr.
Soeben sind sechs der tätigsten und tüchtigsten Mitglieder des hiesigen Regierungskollegiums auf Grund höherer Verfügung suspendiert worden; nämlich: die Herren Geh.Reg.Rat Arndts, Reg.Räte Quentin, Otto, Mathieu, Engelmann und Reg.Ass. Gerhardy. Den Grund dieser Suspension kann ich noch nicht speziell angeben; jedenfalls besteht derselbe jedoch in Conflicten mit dem Präsidenten Frhr.v.Spiegel wegen des über die hiesige Stadt, wie man sagt, ohne das Wissen des Kollegiums verhängten Belagerungszustandes. Dass die suspendierten Mitglieder sich hier in jeder Beziehung der allgemeinen Achtung erfreuen, ist eine unbestrittene Tatsache, und darf man fest überzeugt sein, dass dieselben in dieser Angelegenheit nur für das von ihnen als wahr und gut anerkannte aufgetreten sind, ihre Ansichten aber mit Kraft und Energie vertreten haben. Dass der aufgeregte Zustand der Stadt hierdurch nicht besänftigt wird, ist nicht zu bezweifeln. Wo möglich, teile ich schon morgen Näheres mit."

Unter der Nr, 152 schreibt die Rheinische Zeitung (Karl Marx) am 26. November 1848:

"Düsseldorf, 25. November. Infolge der Suspendierung, Seitens der Oberpräsidenten Eichmann, von sechs Mitgliedern des hiesigen Regierungskollegiums haben, wie es heißt, zwei andere Regierungsräthe ihre freiwillige Entlassung eingereicht. Sicherem Vernehmen nach sind die suspendierten Mitglieder die Herren Geh.Rath Arndts, Reg.Rath Quentin, Otto, Mathieu, Engelmann sowie Gerhardy, Assessor mit beratender Stimme. Der erst seit kurzem hierher gekommene Polizei- Inspektor Zeller ist gleichfalls suspendiert, weil er auch durch Schrift und Wort erklärte, die Nationalversammlung als gesetzlich anzuerkennen. (D.Ztg.)."

Unter der Nr. 154 schreibt die Rheinische Zeitung am 28. November:

"Düsseldorf, 25.. November. Da haben wir’s! Die Regierungsräthe wissen selbst nicht mehr, was sie rathen sollen. Die Hälfte unserer Regierung will die Nationalversammlung und ihre Beschlüsse gesetzlich wissen, während der Präsident, der für den Augenblick der Plenarsitzung die Kaserne ver lassen musste, und für einige Andere am glorwürdigen Ministerium Brandenburg iesthalten wollen. So sind denn einstweilen einmal sechs der Herren die R.R. Arndts, Otto, Quentin, Gerhardy, Engelmann und Matthieu ihrer Funktionen enthoben; drei andere werden bald folgen ........."


Düsseldorf war damals eine "bekannte aber noch kleine Stadt und konnte sich nicht im entferntesten mit Städten wie Köln oder Hamburg messen. Aber das Industrie-Zeitalter hat At doeh mit zu einem nicht geringen Teil seinen Anfang gefunden. Das lag wohl an der Aufgeschlossenheit seiner Bewohner und der günstigen Lage der Stadt. Die Bedeutung der Stadt hatte man in Berlin wohl/erkannt, hatte Düsseldorf zu einem Regierungsbezirk mit einem Regierungspräsidenten und einer stattlichen Garnison gemacht. Beliebt waren die PreuiBen nicht, aber man schätzte ihre Ordnung. So war Düsseldorf natürlich auch ein Platz für Nachrichten. Es gab die Düsseldorfer Zeitung, den Rheinischen Beobachter und andere. Die Zeitungen existieren nicht mehr oder sind in andere Zeitungen übergegangen. Archive sind während des letzten Krieges vielfach zur Asche geworden. Aber aus einigen Exemplaren der Kölnischen Zeitung und der Rheinischen Zeitung, die gleichfalls in Köln erschien, kann man entnehmen, wie gespannt und gereizt die Stimmung 1848 war. Die Kölnische Zeitung, bis 1945 die Zeitung, die überregional wohl mit die größte Bedeutung hatte und in etwa vergleichbar mit der heutigen Frankfurter Allgemeine Zeitung war, ist mit Ende des letzten Krieges eingegangen. Die Rheinische Zeitung war ein Kampfblatt von Karl Marx; ihre Dauer war nicht allzulange, sie wurde von der damaligen preussischen Regierung verboten. Beide Zeitungen wurden in den maßgebenden Kreisen gelesen - und bestimmt in den Regierungskreisen. Und alles, was in Düsseldorf passierte, las man in der Zeitung, und was gelesen wurde, ging weiter von Mund zu Mund. So hatte in Düsseldorf in einem Lokal eine Versammlung stattgefunden, das war am 5.3.1848, wo eine Petition von 600 Leuten unterschrieben worden war, die dem König vorge legt werden sollte. Sie enthielt die Forderung nach "einer Volksvertretung mit beschließender Stimme in allen Fragen der Gesetzgebung und der Steuerbewilligung Pressefreiheit ....." , zu gleicher Zeit lakonische Mitteilungen, dass ein Bataillon Infanterie und eine Schwadron Dragoner


nach Aachen von Jülich bzw. von Deutz in Marsch gesetzt worden waren. Paar Tage spater verbreitet man in der Stadt einen lithographierten Zettel, wonach der Stadtrat aufgefordert wird, gegen eine Zensur zu protestieren. "Die Stimme des Volkes findet kein Echo an den Stufen des Throns ..., solange die Krone nicht ihre Räte aus den Freunden des Volkes wählt". Der Oberbürgermeister v. Fuehsius fordert unter dem 14. März die Bürger in einer Bekanntmachung auf, die obige in der Bockhalle ausgelegte Petition nicht zu unterschreiben. "Alles müsse man ver meiden, was Unruhe und Unfrieden der Stadt bringe". Am 15. März berichtet die Zeitung, dass "das Regierungs kollegium sich an Seine Majestät gewendet und in klarer Weise über die Stimmung der Provinz berichtet habe". Die Meldung erregt allgemeine Freude, v/ird aber zum großen Leidwesen dementiert, und zwar schon am nächsten Tage. "Ein solcher Schritt könne von Seiten des Kollegiums nicht geschehen".

Eine Deputation Düsseldorfer Bürger erscheint am 31. August beim Oberprokurator Schnaase, um sich wegen der Verhaftung Freiligraths zu verwenden. (Bekannter Dichter u.a. des Gedichts "Die Toten an die Lebenden", weswegen er auf höhere Weisung aus Köln verhaftet wurde). Am 9. September versucht eine aufgeregte Masse den berühmten Dichter zu .befreien; paar besonnenen Bürgern gelingt es, die "tobende Masse" zu beruhigen. Am Donnerstag, den 1. November kommt es zu einem Zwischen fall im Hause der Gräfin Hatzfeld, der an und für sich nichts mit den politischen Ereignissen der 48er Jahre zu tun hat. Die Gräfin war in einem Skandal- und Sitten-Prozess ver wickelt, der s.Zt. ein weltweites Aufsehen erregte, so dass die Blätter in London, Paris, Brüssel usw. darüber berichte ten. In dem Prozess kommt alles vor - Ehescheidung, Untreue, Erbschleicherei, Sexualdelikte, Korruption und sofort. Verteidiger der Gräfin war der bekannte Jurist und Sozialist Dr. Ferdinand Lasalle.


Dieser befand sich an dem Abend im Hause der Gräfin, mit ihm zusammen ein Journalist der Rheinischen Zeitung - Heinrich Bürgers - . Um die beiden Letzteren drehte es sich auch, denn die sollten an dem Abend verhaftet werden. Der Graf Hatzfeld, der in dem Prozess keine rühmliche Rolle spielt, soll der Denunziator der Nachricht gewesen sein, dass Lasalle und Bürgers bei der Gräfin seien. Die Gräfin hatte gegen die Haussuchung unter Berufung auf die Habeas-Corpus-Akte protestiert - ohne Erfolg. Die Polizei ging mit Brachialgewalt vor. Am nächsten Tag steht alles in der Zeitung. Jeder weiß, Lasalle ist einer der besten Redner des Berliner Parlaments, ihn wollte man verhaften. Der Prozess Hatzfeld war nur ein Vorwand. Am 12. November, wieder eine Versammlung in der Bockhalle, es wird eine Adresse an die Berliner Nationalversammlung mit vielen tausend Unterschriften gesandt. Am 9. November wird Robert Blum in Wien erschossen. Am 16. November wil'd Lorenz Cantador zum Chef der Düssel dorfer Bürgerwehr gewählt. Einer seiner Offiziere ist der Arzt Dr. Heinrich Gerhardy, Bruder des Assessors Gerhardy. Die Bürgerwehr stellt sich der Berliner National versammlung zur vollen Verfügung und fordert vom Gemeinderat Patronen und Munition, Die Versammlung in der Bockhalle fast einen Beschluß, dass jede "Steuerzahlung, ihre Beitreibung usw. als ein Verbrechen gegen den Beschluß der Nationalversammlung und als Hochverrat zu betrachten sei". Am 22. November wird in Düsseldorf der Belagerungszustand erklärt. Am gleichen Tage erklärt die Frankfurter National versammlung den Beschluß der Berliner Nationalversammlung betreffend Steuerverweigerung als null und nichtig. Das Offizierskorps der Bürgerwehr tritt am Tage des Belagerungszustandes morgens um 9 Uhr zusammen, fühlt sich durch einen Wortbruch des Präsidenten v. Spiegel über rumpelt, ihre drei Kompagnien sind von der Legion durch das Militär abgeschnitten, man beschließt den "passiven Widerstand".


Was hatte nun den -Freiherrn v. Spiegel veranlasst, den Belagerungszustand ausrufen zu lassen? Angeblich sollte ein Attentat auf die Kgl. Post verübt worden sein, "das die Verhinderung der Absendung von Geldern des Staates zum Zwecke hatte". So Herr v. Spiegel! Dies öffentlich bekannt gemacht ruft einen Protest der Bürgerwehr hervor, deren Offiziere des Attentats beschuldigt werden. Zur Absendung bei der Post lagen 26.000 Thaler seitens der Düsseldorfer Regierung bereit, eine stattliche Summe, wovon aber in der Öffentlichkeit nicht gesprochen wird. Der Bürgerwehroffizier Lorenz Glasen ist von Gantador beauftragt worden, das Post eigentum unter allen Umständen zu schützen, dabei ist der Offizier in die Packkammer gegangen, hat nichts angerührt. Jedenfalls ist dieser Gang, den er mit mehreren Bürgerwehr offizieren getan hat, als Attentat betrachtet worden. Ob ein Attentat tatsächlich beabsichtigt war, wird von der - Bürgerwehr auf das Entschiedenste bestritten, was ich auch zu Gunsten dieser doch seriösen Männer annehme. Dass sie sich mit diesem Gang aber in den Verdacht einer der Regierung unerwünschten Handlung setzten, muß man bei der Gespanntheit der Lage auch als eine Gegebenheit ansehen. Am 24. November veröffentlicht die Kölnische Zeitung eine wohl im Stenogramm niedergelegte Unterredung zwischen Gantador, seinen Offizieren und v. Spiegel. Der Text der Unterredung zieht sich über mehrere Zeitungsspalten hin. Cantador, ohne Frage ein vaterländisch gesinnter Mann, spricht schöne Worte, ist dem v. Spiegel, dessen verklausu lierten, diplomatischen Reden nicht gewachsen, begnügt sich mit dessen scheinbar wohlmeinenden Worten, und man verab schiedet sich unter den freundschaftlichsten Versicherungen ' des Präsidenten. Das Interview findet nur einen oder zwei Tage vor Verkündung des Belagerungszustandes statt. Allerdings hat v. Spiegel zum passiven Widerstand quasi angeraten, bei einem aktiven V/iderstand würde er allerdings auch aktiv v/erden, ja er verweist bei dieser Gelegenheit auf den Code Napoleon, der ja in Düsseldorf noch galt und bei ihm auf den Schreibtisch liegt.


Nun wiederholen sich die Zeitungsnachrichten. Die Kölnische Zeitung Dringt unter dem 25. November anderthalb Seiten einen Bericht aus der Frankfurter National versammlung, wo über den mehr als üblen Terror der Wiener Regierung (Windisch-Grätz) in Wien und anderen Bereichen Österreichs gesprochen und diskutiert wird; 'der Terror hat barbarische Formen angenommen. Das alles heizt die Atmosphäre noch mehr an. Nun, der Widerstand gegen die königliche Gev/alt erlahmt. Das Volk ist verwirrt. Die widersprüchlichen Reden der Frankfurter und Berliner Versammlungen tuen ein übriges, der König mit seinen disziplinierten Truppen hat die Über macht. Der Erfolg gibt ihm Recht. Ob man das Recht für recht hält oder nicht, ist jetzt eine sekundäre Frage. Man darf auch eins nicht vergessen; Die französische Revolution war 1848 59 Jahre alt, also noch vielen Leuten im Gedächtnis. Wenn auch die meisten die Revolution nicht mehr erlebt hatten, so war doch ein grosser Teil der Menschen mit den Nachwirkungen der Revolution vertraut, und die waren ja zum Teil recht üble. Daher war auch der Widerstand der konservativen Kreise so massiv. Der preussische Adel hatte sich während der Befreiungskriege von großer Bravour gezeigt, genoss bei der Bevölkerung ein Ansehen und dachte nicht daran, auf irgend ein Privileg zu verzichten. Auf der anderen Seite gab es sehr fähige Menschen, die das Heraufkoinmen einer neuen Zeit ahnten und Reformen wollten. Wie das immer so ist. Beide verstanden sich nicht, jeder redete eine andere Sprache. Man denke nur an H. Heine, dessen Schreibstil zu bewundern ist, jeden falls empfinden wir das heute, der aber damals auf die Leute frivol und wie eine kalte Dusche wirkte. Selbst eine linke Zeitung wie die von Marx redigierte Rheinische Zeitung war langweilig gegenüber einem Aufsatz von Heine. Von den anderen Zeitungen ganz zu schweigen.


Der junge Assessor Gerhardy lebte nun mittendrin in diesem Wirrwar. Er verkehrte ständig in dem Haus seines Bruders, kam dort mit allen möglichen Leuten zusammen, wovon viele zu den Demokraten und Liberalen zählten. Er war in der Steuerverweigerungssache ein ganz kleines Rädchen, und sein Einfluß war nicht von großer. Bedeutung. Wenn man sein Porträt aus dieser Zeit betrachtet, stellt es einen jungen eleganten Mann mit freundlichem Gesicht dar, von dem man sich vorstellen kann, dass er den schönen Dingen des Lebens zugewandt war, ohne gerade leichtfertig zu sein. Seine Braut Adele, auf dem Bild 22, hat ein gutes, ernstes Gesicht. Gerhardy sitzt in einem Kollegium eines guten Dutzend Männer, die praktisch an Alter, Erfahrung und Rang ihm über sind und qualifizierte Leute sind. Dass er sich denen anschloß, die ein Ohr für die Berliner Nationalver sammlung hatten und sehr wahrscheinlich progressiver als die anderen dachten, entsprach mehr seinem eigenen Naturell, entsprach auch der Auffassung seines älteren Bruders, eines angesehenen Arztes, über diese Dinge hatte man ja zig Mal irn Kollegium geredet - schon ein halbes Jahr vor der Suspendierung. Kollegium setzt Kollegialität voraus, viel leicht hat sie ursprünglich bestanden. Wenn aber in so politisch erregten Zeiten interveniert, taktiert und schließ lich intrigiert wird, geht eine solche Kollegialität bald zum Teufel. Wie es Gerhardy nach der Suspendierung im November 1848 ergangen ist, darüber kann ich nur Vermutungen ans.tellen. Seine Bezüge wurden halbiert, d.h. also, sein Jahresgehalt wurde von 400 auf 200 Taler reduziert. Das war schon ein Schlag. Dabei hatte er ja nichts Böses getan. Die 5 Räte und er waren für eine Sistierung der Steuer nicht für eine Aufhebung. Aber dieser Unterschied ging in der Aufregung wohl unter. Von 17 Talern im Monat war für einen Regierungs- Assessor, der auf Freiersfüssen ging, zu leben kaum möglich.


Sein Arztbruder ging nach Amerika, der konnte ihm nicht helfen. Sein Vater, der Hofrat, war fünf Jahre vorher verstorben. Seine Mutter, ob die ihm helfen konnte, weiß ich nicht. Großes Vermögen hatte sie nicht, Außerdem waren da noch drei Kinder zu versorgen. Sein jüngerer Bruder war 1848 achtzehn Jahre - entweder noch auf der Schule oder begann gerade sein Studium. Nun zog sich die Suspendierung mehr als ein Jahr hin. Die Sache der 5 Räte und des Assessors kam vor den Königlichen Disziplinarhof in Berlin, der sich aus mehreren hohen Juristen und Beamten zusammensetzte. Wie das Ver fahren sich im einzelnen abwickelte, weiß ich nicht. Jedenfalls muß eine stattliche Anzahl Verhöre stattgefunden haben. Das Verfahren war nicht öffentlich. Aber aus der Anklageschrift und des dazugehörigen Votums, wir würden heute sagen Verteidigung, läßt sich vieles ersehen. Anklage und Votum liegen im Original in Schloß Kalkum seit 125 Jahren. Dort ist das.Archiv der Düsseldorfer Regierung.

Aus der Anklageschrift

"Am 18. November, als die herkömmliche Vormittagskonferenz der Regierungsmitglieder infolge der Tagesereignisse zahlreicher als gewöhnlich besucht war, verlangte eine Deputation der Düsseldorfer Volksversammlung von dem Präsidenten von Spiegel eine nähere Erklärung über die Stellung, welche die Regierung über den Beschluß der Nationalversammlung vom 15.ejus, dass das Ministerium Brandenburg nicht berechtigt sei, über Staatsgelder zu verfügen und die Steuern zu erheben, einnehmen werde."

Nach kurzer Besprechung verlangt die Deputation von v. Spiegel, "sie verlange eine Bestätigung seiner Eröffnungen vom Kollegium." Das Verlangen wird als unangemessen betrachtet; zwei Abteilungs-Dirigenten, Engelmann und Quentin, sollen der Deputation Rede stehen.


Beide unvorbereitet erklären, "dass die Regierung unter allen Umständen verpflichtet sei, die Verwaltung nach den bestehenden Vorschriften fortzuführen, und die .... vor handenen Gelder ihrer etatsmäßigen Bestimmung nicht zu entziehen, .... ein Kollegialbeschluß sei nicht gefaßt, man müsse sich das Weitere Vorbehalten". Es entsteht bei Engelmann und Quentin das Bedürfnis, "bei der herrschenden Aufregung und bei den Konflikten der Ansichten, die eine stets wachsende Verwirrung er zeugen und das Land in zwei feindliche Lager zu teilen drohte,." sich über den Fragenkomplex mehr Klarheit zu ver schaffen, womöglich eine gemeinsame Auffassung des Kollegi ums anzubahnen und womöglich einen sicheren, das Gesetz und die öffentliche Meinung gleich sehr berücksichtigenden Standpunkt zu gewinnen", Einen Tag später treffen Engelmann und Quentin zufällig mit dem Regierungsrat Nobiling und dem Oberbürgermeister Dietze zusammen, erfahren von Regierungsverfügung, die von Spiegel gemeinsam mit dem Polizeirat v, Mirbach ohne Zuziehung des Kollegiums erlassen hat, wonach militärische Kräfte zur Unterdrückung eines Strassenkrawalls herangezogen werden sollen. Beide Räte betrachten das Vorgehen als ungesetzlich und "fast absichtlich einen Zusammenstoß herbeiführend". Man trifft sich in dem Büro des Engelmann, wo sich dann kurz darauf die Räte Quentin, Arends, Otto, Nobiling und der junge Assessor Gerhardy einfinden. Dieses Zusammen treffen erscheint dem Nobiling nicht zufällig, sondern verabredet. Bei der nun stattfindenden Besprechung hält man es für angemessen, eine Adresse an den König zu richten und zwei weitere Beschlüsse der Regierungskollegen herbei zuführen. Den Adressen-Entwurf übernehmen die Räte Otto und Quentin, die Aufstellung der fraglichen Anträge der Rat Engelmann.


Am nächsten Morgen will man wieder in dem Zimmer Engelmanns Zusammenkommen. Bei dieser Unterredung im Regierungsgebäude findet ein lebhafter Austausch der Ansichten statt; an der Unterredung nimmt auch Gerhardy teil, Formell erscheint den Herren die Beschlußfassung der Berliner Nationalversammlung gerechtfertigt, man verhehlt sich keineswegs, dass der Beschluß in seinen folgen das Staatswohl zu vernichten drohe, und dass ein Beamter zu seiner Verwirklichung keine Hand bieten könne. "Mit ihrer Amtspflicht erschien es nicht nur vereinbar, sondern sogar geboten, im Hinblick auf die öffentliche Ruhe einen Beschluß des Kollegiums herbeizuführen, ob nicht zur Verhütung größerer vielleicht blutiger Konflikte eine einstweilige Suspendierung der Steuerexekutionen .... auszusprechen sei". Am 20. November werden Entwürfe zu der Adresse und zu dem Antrag, letzterer ganz formlos, vorgelesen und anerkannt. "Wir sind der Ansicht, dass in dem Konflikt zwischen dem Ministerium Brandenburg und der Nationalversammlung das Recht überwiegend auf Seite der Letzteren ....... ist, erachten den Beschluß der Nationalversammlung gegen das Ministerium gerichtet, dass aber die Verwaltung durchgeführt werden muß und Staatsgelder ihrer Etats-Bestimmung zuzuführen sind. ..... Andererseits sind wir der Ansicht, dass mit Rücksicht auf die bestehende Aufregung zur Herstellung der Ruhe und Ordnung die zwangsweise_Beitreibung_der_Steuern ...... zu sistieren ist". Das Scriptum wird unterschrieben von den Räten Quentin, Arends, Otto, Nobiling, Mathieu, Varenkamp, Gerhardy. (Varenkamp hat später seine Unterschrift zurückgezogen).


"Später unterschreibt noch der Reg,Rat Sebastiani, dem gesagt wurde, wie die Anklage behauptet, das Scriptum stände mit einem Beschluß des Kollegiums in Verbindung. Die Räte Harten, Klinge und Fassbender lehnen die Unter schrift ab, den Räten Hülsmann, Ebermayer und v. Mirbach wird das Scriptum gar nicht vorgelegt. Engelmann erklärt, man habe das voraussehen können, dass die "Spitzen der Collegii" der Aktion sich nicht anschließen würden, und dass die Adresse nicht namens der Collegii sondern sub rubro, der Unterzeichneten Mitglieder entworfen sei". V. Spiegel war inzwischen schriftlich gebeten worden, noch am gleichen Tage um 11 Uhr eine Plenarsitzung des Kollegiums einzuberufen. Bei Sitzungsbeginn bringt Quentin die fragliche Adresse und deren Unterzeichnung zur Sprache. Dieser Gegenstand wird sofort beseitigt, weil die Adresse 'Privatsache der einzelnen Mitglieder sei. Engelmann nimmt das Y/ort, kommt auf Einzelheiten zu sprechen - Nichterhebumg der Steuern, Sistierung der Steuerbeitreibung, erwähnt die Ansicht der Antragsteller, wonach die Nationalversammlung im Recht sei. Er wird in seinen Y/orten unterbrochen. Von Spiegel droht mit der Suspension der Antragsteller, ihrer augenblicklichen Entfernung, worauf die Zurückbleibenden ihre Stellen einnehmen könnten, und der Polizeirat v. Mirbach deutet auf den dem König geleisteten Eid hin. "Gegen die hierinliegende Voraussetzung der Absicht ungesetzlicher Übergriffe wird von allen Seiten Verwahrung eingelegt". Die Debatte währt drei Stunden, wird hitzig und hitziger. Regierungsrat Engelmann bittet das Polizei-Departement dem Regierungsrat v. Mirbach zu entziehen, einem Mitgliede zu übertragen, der das Vertrauen des Kollegiums besässe!


Der Ankläger verweist nun auf den Diensteid, zitiert einige besondere gesetzliche Bestimmungen, die im Zusammenhang der staatlichen Verwaltung stehen, dass bis zum 20. November durch die Nationalversammlung keines der eben zitierten Gesetze außer Kraft gesetzt seien, und dass praktisch die Berliner Nationalversammlung überhaupt nicht befugt war, ein Steuergesetz damals zu erlassen. Die Regierung (Düsseldorfer) und ihre Mitglieder hatten demnach keine andere oberste Staatsgewalt über sich als den König. "Was die angeklagten Beamten einen Konflikt zwischen den höchsten Staatsgewalten, dem Ministerium Brandenburg und die dagegen gerichteten Beschlüsse einer Fraktion der vertagten Nationalversammlung, nennen, ist als Konflikt zweier Staatsgewalten rechtlich nicht vorhanden". Das Einzelne wird noch lang und breit juristisch deduziert; jedenfalls, dass man den Beschlüssen der Nationalversammlung imperative Bedeutung gab, wirft man den angeklagten Beamten vor, dass sie damit den "Boden des Gesetzes und ihrer Pflicht verlassen haben, und dass man Zweifel an der Treue zu ihrem König haben müsse". Der Ankläger zitiert aber auch das Gesetz, dass die Regierungsmitglieder verpflichtet seien, "das Beste des Staates und das Gemeinwohl der Untertanen wahrzunehmen....". Jetzt ergeht sich der Ankläger über die besondere Lage in Düsseldorf. Natürlich heißt er die Maßnahmen des Regierungspräsidenten gut. Sollte der Regierungspräsident nicht etwas unternehmen, wo vielleicht ein blutiger Aufstand bevorstand? Die Angeklagten haben sich, wir würden heute sagen, zu einer schriftlichen Demonstration entschlossen, haben sich vor der Plenarsitzung unter sich geeinigt mit dem Ziel, durch die Adresse an den König und die Anträge zu erreichen, dass die Steuerbeitreibung sistiert würde. Diese Sistierung - bekanntgemacht - würde natürlich nichts aperes als eine Unterordnung eines Provinzial-Kollegiums unter die Beschlüsse der Nationalversammlung aufgefaßt werden und den Bestand der Regierungsgewalt im Rheinland im höchsten Grade gefährden, zumal man auch die Absicht hatte, dem Reg.Rat v. Mirbach die Polizeigewalt zu entziehen.


Der Ankläger beleuchtet in einem vielen Seiten langen Schriftsatz noch viele Details, kommt dann zum Schluß. Hauptschuldiger ist Engelmann, darnach rangieren Quentin und Otto, alle drei Regierungsräte. In zweiter Linie fungieren als Schuldige der Geheime Regierungsrath Arends, der Regierungsrat Matthieu und der Regierungsassessor Gerhardy. Wegen Verletzung ihrer Amtspflichten verlangt die Anklage, dass alle sechs Beamten aus dem Düsseldorfer Amt zu ent fernen und in ein anderes Amt vom gleichen Range zu versetzen sind. Das Diensteinkommen bei den ersten drei Angeklagten sei zu vermindern, der Anspruch auf Umzugskosten wird gestrichen. Die Anklageschrift ist datiert vom 1.11.1849 und unterschrieben von dem Geheimen Regierungsrat Sulzer. Ich komme nun auf das Votum. Votum, so tituliert sich die Verteidigungsschrift vom 20.11.1849 - unterschrieben von Regierungsrat (?) Zettwach. Die lateinische Vokabel, "Votum" kann vielerlei bedeuten - Gelübde, Wunsch, Fluch, Urteil, Gutachten - nur nicht Verteidigung. Das Votum bemängelt zunächst, dass der Disziplinarhof ein Jahr gebraucht hat, um zu diesem Vorgang Stellung zu nehmen. Das Votum nimmt dann die Vorgänge auseinander, die zu der Suspendierung geführt haben, wird ziemlich massiv, beschuldigt den Regierungspräsidenten v. Spiegel, das, was er in seinem ersten Bericht den Angeklagten vorgeworfen habe, sich nicht bewahrheitet, sich zum Teil als unwahr ergeben hat. Der Vorwurf geht dahin, dass die Angeklagten, die Konigliche Wirksameit hätten außer Kraft setzen wollen. Später will v. Spiegel seinen Vorwurf als "missverstanden" betrachtet wissen. Nur der Reg. Rat v. Mirbach hat das so verstanden, hat aber anerkennen müssen, dass eine örtliche Mitaufnahme nicht angetragen ist.


Auch hat keine Erörterung stattgefunden. Welche Folgerung der Zeuge ..... daraus ableitet, darauf kann es nie ..... ankommen". "Der Reg. Rat v. Mirbach muß anerkennen, dass die Angeklagten nur von Steuerbeitreibung gesprochen haben". Vom Aufhören der Steuererhebung war überhaupt nicht die Rede. Dazu kommt, dass der Zeuge v. Mirbach den Angeklagten "höchst feindselig" entgegengetreten ist. Das Votum bemerkt weiter, dass auf die Zeugenaussage des Regierungspräsidenten v. Spiegel kein Gewicht zu legen sei, da er überdies als Ankläger zu betrachten sei und als solcher nicht ohne Interesse an der Sache. Bei der Untersuchung des Vorgangs spielt ein Scriptum eine Rolle, dass der Regierungsrat Fassbender verfasst hat, wobei nicht genau feststeht, wann die Notiz geschrieben worden ist. Anfangs, während oder nach der Sitzung. Fassbender kann es nicht exakt angeben, klagt selbst über ein schwaches Gedächtnis. Dieser Notizzettel, zu den Akten genommen, spielt eine Rolle, weil v. Spiegel seine Darstellung (des Zettels) praktisch als Indiz gegen die Angeklagten benutzt. Das Votum wirft v. Spiegel vor, dass es Unrecht gewesen sei, dieses Scriptum als eine objektive Darstellung des Gesprochenen zu betrachten und,anscheinend wesentlich hierauf gestützt, dem Ministerium etwas Unrichtiges vorgetragen hat. Das Votum moniert dann die Ausführungen des Anklägers, wie eine Regierung zu führen sei. Tatsache war doch: "Wir standen an der Schwelle eines Bürgerkrieges". "Welche Maßregeln zu ergreifen sind, um den .... Übeln entgegenzutreten, und wenn Maßregeln in Vorschlag gebracht werden .... die aufgeregten Massen zu beruhigen, nicht von neuem aufzustacheln, um auf solche Weise Zeit zu gewinnen, um der besseren Einsicht Eingang zu verschaffen, kann das Votum nichts finden, was Tadel verdient". Die in Vorschlag gebrachte Sistierung war nicht unbedingt verwerflich, zumal unter Billigung des Präs. v. Spiegel, des Oberregierungsrat Klinge unter Zustimmung des Oberpräsidenten eine solche Maßnahme des Düsseldorfer Gewerbes bereits vorher angeordnet war.


Der Oberreg. Rat Klinge, dessen Urteil das Votum großen Wert beimisst, sagt ausdrücklich, dass er während der stattgefundenen Verhandlung bei den Antragstellern (den Angeklagten) keine andere Absicht habe erkennen können, als dass es ihnen sämtlich nur um die löblichsten und wohlgemeintesten Zwecke zu tun sei. Eine so gröbliche Verirrung würde auch am wenigsten bei Beamten anzunehmen sein, welche, wie die Angeklagten, bis dahin durchaus zweifelsfrei zum Teil mit Auszeichnung und Anerkennung dem Staate ihre Dienste gewidmet haben. Nun kommt das Votum auf einen Punkt, der für die Betrachtung des Falles von ausschlaggebender Bedeutung ist. Wörtlich heißt es in dem Notizzettel: "Wir sind der Ansicht, dass in dem Konflikt zwischen ........... ,das Recht überwiegend auf Seiten der Nationalversammlung ......und der Beschluss über die Steuerverweigerung formell gerechtfertigt ist". Eine Ansicht, die Räte Engelmann und Otto anerkennen und verteidigen. Die Verteidigung schreibt weiter: "So wenig irgend einem anderen Angehörigen des Staates, ebensowenig wird dem im Dienste des Staates angestellten Beamten die politische Überzeugung verkümmert werden dürfen; für die Überzeugung gibt es auch bei den Beamten kein anderes Tribunal als der Ehre und des eigenen Gewissens. Ein anderes ist aber die freipolitische Überzeugung, ein anderes der politischen Überzeugung Einwirkung auf die Amtsführung zu gestatten. Bei Ausübung der durch das Amt gebotenen und mit der Amtsführung unmittelbar und mittelbar in Beziehung stehen den Pflichten darf der Beamte niemals sich durch seine politische Üerzeugung bestimmen lassen. Entsteht bei dem Beamten Konflikt zwischen dieser Überzeugung und der durch den amtlichen Beruf gebotenen Pflichten, so kann und darf dieser Konflikt nur durch das Ausscheiden aus dem amtlichen Beruf gelöst werden.


Das Votum wirft nun den Angeklagten vor, sie haben versucht, ihrer politischen Überzeugung Eingang in die Beratung des Regierungs-Kollegiums zu verschaffen ........ ,die Angeklagten haben daher ihrer politischen, der bestehenden Regierung entgegengesetzte Überzeugung Einfluss auf ihre Amtsführung gestattet. Den Vorwurf einer mindest zweideutigen Gesinnung haben sie sich zugezogen und ihren amtlichen Charakter nicht in derjenigen Reinheit zu erhalten gewußt, welche Dienstpflicht und Diensteid fordern. Den Angeklagten kommen aber erhebliche Gründe zustatten, die nach Auffassung des Votums einen milderen Gesichtspunkt gelten lassen. 1) Die ganze Diskussion fand nur im Schosse der Regierung statt; nach außen ist überhaupt nichts gedrungen. 2) Gegenüber der Presse hat man sich sehr zurückhaltend gezeigt. 3) Der Antrag der Angeklagten enthält nichts, was mit ihren Amtspflichten in Widerspruch steht .... 4) Die Zeitverhältnisse, wo die Ansichten über Recht und Unrecht sehr verwirrt waren. 5) Der Vorwurf der Anklage, dass die Angeklagten es an der schuldigen Treue gegenüber dem König haben fehlen lassen, ist unbegründet. Den Antrag der Anklage auf Strafversetzung teils mit, teils ohne Verminderung der Diensteinkommen, alle jedoch ohne Anspruch der Umzugskosten, lehnt das Votum ab. Geldbußen dürfen das Diensteinkommen eines Monats laut Gesetz nicht übersteigen. Die Jahresgehälter der Angeklagten betragen 1t. Votum bei Arends 1.600, Engelmann 1.400, Matthieu 1.300, Otto und Quentin je 1.200 und Gerhardy 400 Taler. Der Vorschlag des Votums geht nun dahin, Engelmann mit 80, Otto mit 60, Arends mit 40, Matthieu und Quentin mit 30 und Gerhardy mit 10 Taler zu bestrafen, die Kosten des Verfahrens sollen die Angeklagten gemeinsam tragen

  • evtl, pro rata.

Am 15.12.1849 wird für Recht anerkannt, "dass die Regierungsräte Engelmann, Otto und Quentin wegen Verletzung ihrer Amtspflichten, mit Verminderung ihrer Diensteinkommen und Verlust des Anspruchs auf Umzugskosten, aus ihren Ämtern als Mitglieder der Regierung in Düsseldorf zu entfernen und in ein anderes Amt vom gleichen Range zu versetzen, gegen den Geheimen Regierungsrat Arndts, den Regierungsrat Matthieu und den Regierungsassessor Gerhardy wegen desselhen Vergehens auf einen Verweis zu erkennen, die Angeklagten auch die Kosten der Untersuchung anteilig, erforderlichenfalls solidarisch zu tragen haben" Siegel und Unterschrift (nicht leserlich) des Königlichen Disziplinar-Hofes, Berlin. Das Urteil tendiert mehr zur Anklage, vor allem bei den Räten Engelmann, Otto und Quentin. Der Verweis ist eine unangenehme Sache. Damals wurden über jeden Offizier und Beamten eine sogenannte conduite geführt, worin die Vorgesetzten ihr Urteil über ihren Untergebenen schriftlich darlegten. Die conduite war geheim und war der treue Begleiter während einer Offiziers- oder Beamten-Laufbahn. Ein böswilliger Vorgesetzter konnte u.U. Unheil anrichten. Aber da ein Offizier oder höherer Beamter selten länger als drei Jahre den gleichen Vorgesetzten hatte, konnte er im Laufe der Jahre auch an einen ihm wohlgesinnten Vorgesetzten geraten, der ihn dann u.U. über Strich und Faden lobte. Auch kannten sich die Offiziere und Beamten untereinander und wußten, wie man eine conduite zu lesen hatte. Trotzdem war ein Verweis unangenehm, er wurde aufbewahrt und schlummert heute noch in den Akten - mehr als 125 Jahre in Schloß Kalkum. Nach dem Verweis, noch in Düsseldorf zu bleiben, war für Gerhardy eine peinliche Sache. Er mußte ja dann unter dem v. Spiegel weiter dienen, der ja mit seinem Adlaten Mirbach keine schöne Rolle ihm gegenüber gespielt hatte. Er ist dann nach Stralsund gegangen, der Heimat seiner Braut Adele.' Ob er dort mit offenen Armen von seinem zukünftigen Schwiegervater, dem Geheimrat Brüggemann, empfangen worden ist, glaube ich nicht so ganz.


Am 10.7.1851 - also gut anderthalb Jahre später nach dem "Verweis" heiraten Adele und Leopold und werden in der evg. Domkirche zu Merseburg getraut. Er 34» sie 25 Jahre alt. Ob die Trauung die Zustimmung der Brauteltern hat, die Heirat war ja nach der Düsseldorfer Geschichte vom alten Brüggemann untersagt worden, ob sie heimlich vollzogen wurde, kann sein, kann nicht sein. Merseburg war eigentlich gar kein Platz für die Familie, wo sie besondere Beziehungen zu unterhielt. Die Trauurkunden nennen keine Trauzeugen. Standesamt gab es damals noch nicht. Die Kirchen waren zwar gehalten, einen Zeugen bei der Trauung zugegen sein zu lassen. Das Gebot wurde in gewissen Fällen lax gehandhabt. Am 1.6.1852 wird der erste Sohn "Max" geboren; das Kind wird nur neun Monate alt. Mehr als ein Jahr war der Assessor auf halbes Gehalt gesetzt worden, und das war bitter wenig. Wahrscheinlich hat er während dieser Zeit Schulden gemacht und ist von seinen Gläubigern bedrängt worden. Dann die Heirat. Seine Braut hatte ja während dieser für ihn so ungewissen und qualvollen Zeit zu ihm gehalten. Vielleicht war sie der einzigste Mensch, mit dem er offen seine Probleme besprechen konnte. Nur wer ähnliches am eigenen Leibe miterlebt hat, kann ermessen, was man in einer solchen Zeit durchsteht. Man sagt, dass die jungen Leute Hunger gelitten haben, weil sie nicht genug Geld hatten. Und das im Jahre 1852, wo ein so eisiger Winter herrschte, sie nicht genug Feuerung für ihre Wohnung hatten, dass man fror, und der kleine Max erfror. Welche Gefühle müssen die jungen Eltern beherrscht haben? Es werden noch vier weitere Söhne geboren, 1853 Heinrich, 1855 Hermann, 1856 Leopold(meinVater), 1858 Gustav. Das- genaue Datum, wann Gerhardy von Stralsund nach Erfurt gegangen ist, ist nicht bekannt. Ich nehme an, in den Jahren um 1860. Er ist dort verblieben und 1884 verstorben, 68 Jahre alt - als Geheimer Regierungsrat. Von finanziellen Sorgen ist er nie losgekommen.


Hückelhoven, im Januar 1976
Leopold Gerhardy, Enkel des Geheimen Reg.Rats Gerhardy


Quellennachweis !

  1. Das eigene Gedächtnis, mündliche Erzählungen meiner verstorbenen Mutter, meiner Cousine Thessy Becker geb. Gerhardy, die im Anfang der Niederschrift erwähnten und verlorengegangene Briefwechsel.
  2. Rheinische Zeitung:
    Nr.134 vom 4.11.1848
    Nr.142 " 14. "
    Nr.148 " 21. "
    Nr.146 " 18. "
    Nr.149 " 22. "
    Nr.150 " 28. "
    Nr.152 " 25. "
    Nr.153 " 26. "
    Nr.154 " 28. "
    Nr.155 " 29. "
    Nr.157 " 1.12.1848 (der Neuen Rhein. Zeitung)
  3. Kölnlsche Zeitung:
    Nr. 316 vom 25.11.1848
    Nr. ? " 23. "
    Nr. ? " 24. "
  4. Verschiedene Zeitungsausschnitte wohl meist aus den obigen Zeitungen stammend vom
    4., 5., 6., 14. und 16.3.1848,
    1. und 10.9.1848,
    12., 22., 24. und 25.11.1848
  5. Anklage- und Verteidigungsschrift, Urteil von November / Dezember 1849 des Kgl. Disziplinarhofs, Berlin (Photokopie). Das Original liegt im Archiv der Düsseldorfer Regierung.
    Interessanterweise, warum, weiß ich nicht, hat der Düsseldorfer Regierungspräsident im Jahre 1912 sich diesen Vorgang geben lassen. Also 60 Jahre später.
    Das eigentliche Original ist natürlich handschriftlich geschrieben, sehr schlecht leserlich und stark vergilbt. Dem Düsseldorfer Reg.Präsidenten im Jahre 1912 war das vermutlich zu mühevoll, die alten Handschriften nachzu lesen, und so hat sein Büro alles in Maschinenschrift übertragen. Gut 60 Jahre später habe ich, der Enkel, die maschinenschriftliche Abschrift aus den Jahren 1912 - vermutlich 1913 - photokopieren lassen.


Weitere Dokumente zu dem Thema:

Der Versuch einer Biographie(dieses Dokument) als PDF Dokument
Die Anfrage des Düsseldorfer Regierungspräsidenten vom 6. Dezember 1912 an den Disziplinarhof für nichtrichterliche Beamte
Die Verteidigungsschrift vom 20. November 1849 in der Abschrift von 1913
Teile des Urteils vom 15.Dezember 1849
Das Anschreiben des Finanz- und Innen-Ministers an den Regierungspräsidenten in Düsseldorf vom 30. Dezember 1849
Die Wutbürger von 1848Trotz ihres Scheiterns ebnet die Revolution 1848/49 der modernen Demokratie den Weg.


  1. Prof. Hans-Reinhard Koch schreibt am 19.12.2021 "Ich bearbeite zur Zeit die Matrikel unserer Studentenverbindung, des Corps Rhenania Bonn. Bei uns war 1836/37 Leopold Gerhardy aktiv. Was wir über ihn wissen, ergibt sich aus dem gegenwärtigen Stand unseres Matrikeleintrags, bei dem mir Ihre Webseite eine große Hilfe war:"
    242. Gerhardy, Karl Heinrich Leopold (×××) Rez Sommer 1836; Austr. Ostern 1837; Bruder von Hermann Gerhardy (××.×.×) Palatiae Bonn ✳ 27.1.1816 Heiligenstadt/Sa.; S. d. Hofrats Heinrich Gerhardy u. d. Wilhelmine Hoffmann; Gymn. Heiligenstadt; stud. jur. Göttingen, Bonn; 1837 Auskultator OLG Halberstadt; Reg.-Assessor Düsseldorf; Mitglied des Düsseldorfer Regierungskollegiums, dort 1848 (neben Lothar Bucher, 1817-92) Unterstützer des sog. Steuerverweigerungsbeschlusses, deswegen suspendiert; 1850 Reg.-Ass. Stralsund; ca. 1860 Geh. Regierungsrat in Erfurt