10.1.60

Lieber Kluti,

Man sieht, meine Unkerei hat etwas genützt. Ihr habt Schnee. Und inzwischen hat es sicher noch mehr geschneit, weil es bei uns bei eiskalter Luft Bindfäden geregnet hat. Du hast ja Schwein, da ich deine Karte noch erhalten - vielen Dank dafür - und beantworten kann. Nachdem ich gestern, Samstag, den ganzen Vormittag in der Neurochirurgie herumgelungert und untersucht worden bin, muß ich nun endgültig und garantiert am Montag erst hin. Am Dienstag geht‘s dann unters Messer. Wenn ihr wieder aufgetaucht seid, bin ich vielleicht schon wieder vernehmungsfähig und besuchsreif. Eugen ist ganz traurig, oder er tut so, er sagt es auf jeden Fall, daß der gute Kern der Klasse (die „Optimisten“, hä,hä,hä) nun alle bis auf ihn fehlten. Vergiß bitte nicht, falls Du es nicht schon getan hast, an ihn eine Karte zu schreiben. (Max Planck Str. 16) Die Adresse darum, weil ich sie bis vor 2 Tagen nicht gewußt habe. Die Vergnügungswünsche für die Schule gebe ich fast ungebraucht zurück. (Donnerstag und Freitag) Wenn ihr erst zurück seid habe ich die Lacher auf meiner Seite. Die ersten 2 Tage haben wir in der Schule nur Mist fabriziert. Am Donnerstag, wie vielleicht bekannt, Gottesdienst und Sport fiel ihm zum Opfer. In Physik trumpfte Brach wieder mit seinen Drohungen und Ermanhnungen des Aufpassens von wegen steht in keinem Physikbuch“, „sehr schwierig“ uns so weiter auf. Nur leere Drohungen, denn daß wir etwas integriert haben oder auch nur eine Vorstufe dazu, kann ich mich nicht erinnern. In Mathe mußte er mit schuldbewußter Miene bekennen, die Arbeit noch nicht nachgesehen zu haben. Aber er hatte auch gleich die Ausrede parat. Diesmal wolle er erst die Verbesserung besprechen und dann zurückgeben und so besprachen wir. Er machte es, so glaube ich, recht umständlich. Er baute zu Aufgabe 1 ein System von 3 Gleichungen mit 3 Unbekannten auf. Zu Aufgabe 3 (der Linse) kam er nicht mehr. Weiter interessante (?!) Stunden waren Geschichte (!) und Latein. Zuerst das Schlimmere. In Latein fühlte sich Stadelmeier verpflichtet uns um den Bart zu schmieren und er las uns etwas anderes vor, von wegen der 1. Stunde und so, und zwar Hitlers Tischgespräche“ von ??? Er glaubte damit seinen Beitrag zur Aufklärung der deutschen Jugend geben zu müssen. Zuvor aber sagte er noch, die Hakenkreuzschmierereien und antisemitischen Klecksereien seien seiner Meinung nach „nur dumme Jungenstreiche“ (wörtlich), die viel zu sehr beachtet würden. Der Mann hat Nerven. Ich wäre ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen. Aber das Schönste kommt noch. Hitler war in seinen Tischgesprächen ziemlich frei und unter Männern und was sie redeten war entsprechend. Die Aufnordung der Rasse im Süden und so weiter. Er habe selber in Berchtesgaden gesehen, als er seinen Hof erbaute und seine Leibwache auch dorthin verlegte, wie die nun von ihm befohlenen Kinder rassisch einwandfreier geworden wären. In diesem Stil ging es eine Stunde lang. Wir haben 4 Mädchen in Latein! Auch Palmer mußte seinen Senf dazugeben, er meldete sich und sagte, es hätte ja auch bei der SS bestimmte Häuser zur Auffrischung der arischen Rasse gegeben (auf gut deutsch: Bordelle ohne ...) Ich fands ein starkes Stück. Geschichte beim Heide nicht sondern dem Referendar (alleine). Er gab sich schwer lässig, eine Hand in der Hosentasche, die andere in die Seite gestützt und stolzierte wie ein junger Hahn mit Kalauern in der Klasse rum. Wurde aber dennoch von Ulrich reingelegt. Bemerkenswert war, daß sowohl Brach wie Stadelmeier nach Hilke (abwesend) fragten. Freitag war entsprechend langweilig. Ich glaube und hoffe, ich habe lang genug geschmiert. Der Schulbericht war sicher nicht im Sinne deiner Mutter. Ski Heil und viele Grüße an die anderen beiden Pimpfe

Dein Bernd


Hoffentlich habt ihr keine Briefzensur. Bei den Leuten ist doch alles möglich, oder?


[Obersekunda; ich war mit einer Gruppe unserer Schule in den Weihnachtsferien zum Skilaufen an den Feldberg gefahren. „Die anderen beiden Pimpfe“ müssen daher Peter Brown und Hans-Eber-hard Schultz sein. Die anderen erwähnten Mitschüler sind Eugen Meteorow, Hartmut Palmer, Ulrich Weber und Hilke Kümmel. Die Lehrer Dr. Brach (Mathematik und Physik), unser Klassen-lehrer Herr Heide (Deutsch, Geschichte, Religion) und Herr Stadelmeier (Latein). Auf Veranlassung von Hans-Eberhard nannte sich ein Freundeskreis aus ihm selbst, Eugen, Bernd und mir gegen Bernds heftigsten Protest (er würde sich eher als „Realisten“ bezeichnen), die „Optimisten“.]