[Ende Juni 62]



Lieber Kluti

raffiniert, wie Du mir den Spielball eines Briefes zugeschoben hast. Daß die beiden anderen im Papierkorb endeten, bedeutete doch, daß ich mit der Diskrepanz zwischen dem Gewollten und dem Gesagten nicht einverstanden war und darum abbrach. Wie sollte sich das inzwischen geändert haben, denn ich glaube, ich habe geistig ganz abgeschaltet. Die kümmerlichen Reminiszenzen, die Du auf Deinem Urlaub noch mitgekriegt hast, waren die geistigen Nachwehen von mehreren Fehlgeburten. Sogar mein Pflichtgefühl - ich bilde mir ein, ein recht ausgeprägtes Exemplar zu besitzen - erlahmt, und das ist ein sehr sicherer Indikator für kommende Re- und Evolutionen. Ob das nur der Koller des Mathematikstudiums oder die Vorboten anderer Krisen sind, weiß ich noch nicht. Ich schlampere mit den übungen, nicht weil sie meine Fähigkeiten überstiegen - sie lasten sie zwar voll aus - sondern aus Desinteresse. Natürlich gibt es dafür reale Hintergründe. Wie ich Dir ja schon sagte, werde ich wohl erneut Gelegenheit haben, mein Urteil über ärzte bestätigt zu finden oder es zu revidieren. Ein Unsicherheitsfaktor ist noch drin, aber nur, weil ich bis jetzt eine Untersuchung gescheut habe. Meine eigenen diagnostischen Fähigkeiten lassen mir aber wenig Strohhalme. Keine umwälzenden, aber recht einschneidende Hintergründe, besonders, da ich das letzte Mal eigentlich dachte, es sei das letzte Mal gewesen.

Jetzt ist es, als ob ich tief Atem hole, um dann genug Widerstand entwickeln zu können. Bei diesem Luftholen wirst auch Du mit weniger, kürzeren und seichteren, wenn das noch geht, Briefen rechnen müssen. Als Termin, bis zu dem ich noch auf freier Wildbahn humpele, habe ich mir den 20. Juli gesetzt.

In diesem Zusammenhang wäre interessant, wie sich mein stabiles Gleichgewicht dazu stellt. Jetzt glaube ich fast, ich habe es nur erreicht, weil ich im Unterbewußtsein schon eher etwas ahnte. Denn mit dieser Wurstigkeitsstimmung geht so etwas viel besser. Um mich herum rauscht alles mittelbar vorbei und ich habe mein „ich“ irgendwo in einem unterkühlten Winterschlaf in Sicherheit gebracht. Das ist auch dringend nötig, denn kurz vorher bekomme ich immer einen „memento mori“ Koller.

Mit diesem Brief habe ich mir eigentlich die mühsam aufgebaute Grundlage der früheren Briefe zerstört. Denn, böswillig, waren die ganzen psychologisch-philosophischen Krückstockex-kursionen nur Füllmaterial für die Briefe. Eben potentielle Erörterungen, denen meist sogar die für dieses Terrain unerlässliche Schärfe und Brillanz fehlt(e).

Der Brief scheint pessimistische Züge zu haben, aber sie täuschen, wie immer, müßte ich zu vielem noch das Gegenteil schreiben. Da es aber auch dann nicht klarer würde, lasse ich es und bleibe

Dein

Bernd


Anständiges Papier ist mir ausgegangen und heute ist Sonntag.


[Nach dem Grundwehrdienst in Koblenz bin ich anfang Juli nach Wetzlar versetzt worden. Da-zwischen hatte ich einige Tage Urlaub. Dies ist wahrscheinlich mit „auf Deinem Urlaub“ gemeint.]