Lieber Kluti

Obwohl ich prinzipiell nichts davon halte, will ich versuchen Dir - das Dir ist vielleicht nur ein Vorwand zur Selbstreflexion - ein paar Ebenen meines „ichs“ zu erläutern. Meine Einwände gegen ein solches Verfahren richten sich gegen den Anspruch von Objektivität mir selber gegenüber, den solche Erläuterungen in sich einschließen.

Manchmal glaube ich, ich bin nicht ganz normal, verrückt. Nichts neues wird Deine erste ironische Reaktion sein, die zweite vielleicht, es gibt keinen normalen Menschen. Beides sind aber

unzulässige Verallgemeinerungen, die jegliche weitere Erörterung sinnentleeren. Ich bin von außen angeregt - das Außen war ein menschliches Wesen - einem ganzen Gedankenraum auf die Spur gekommen, den ich Dir näher umreißen möchte. Inwieweit beeinflußt die Umwelt das „ich“? Es ist ein altes Problem, oft behandelt, ich glaube im Kommunismus sogar wissenschaftlich, das mich dennoch in seiner konsequenten Anwendung auf mich fasziniert hat. Zur Umwelt habe ich auch den Körper als mechanischen Unterbau für die Seele genommen. Mit dieser Fragestellung bin ich sehr weit gekommen, weit im Sinne einer Klärung aller Phänomene meines „ichs“, die ich vorher eben nur als Phänomene hingenommen hatte. Dabei bin ich fast zu weit gekommen, ich bin auf keine Invariante in meinem „ich“ gestoßen, ich habe also (fast?) das Psychologisieren ad absurdum geführt. Aber ich muß konkreter werden. Wie immer, bei allen Problemen, die ich über mich wälz(t)e, steckt ein Mädchen dahinter. (Damit Du Dich nicht über meinen Verschleiß mokierst, es kann auch Renaissancen geben). Diesmal waren alle Vorzeichen günstiger, ich hätte eigentlich nur den kleinen Finger ausstrecken brauchen, um eine Hand zu ergreifen (Diese Aussage ist vielleicht nur mit Vorsicht zu genießen. Es gibt einen objektiven Teil in mir, der versucht normal zu sein, dabei aber sehr leicht unsicher wird, und einen Teil, der Pessimist par excellence ist, das heißt ohne Voraussetzungen agiert. Der zweite ist naturgemäß gegen die obige Aussage, aber Verstand, Gefühl und der normale Teil (der übrigens so etwas wie ein Einheitsvektor, ein Bezugs-

system ist) dafür. Eine Weile habe ich gezögert, das einfachste, dann habe ich meinen Finger wieder eingesteckt, das mir scheinbar auch einfachste, davon bin ich aber noch nicht so ganz überzeugt. Hier setzt nun meine Kritik, die des objektiven Teils, ein, der jede Abweichung von sich über einen bestimmten Grad hinaus als verrückt erklärt. In diesem Pendel sind, glaube ich, schon die Schwankungen im Bereich des Normalen kompensiert, daß also Dein zweiter Einwand hinfällig wird. Ich habe die Hand nicht ergriffen, obwohl mir viele Teile meines ichs deswegen noch jetzt sehr böse sind, es war also nicht einseitig, wenn ich mir auch über das Ursache - Folge Verhältnis keine Rechenschaft geben kann. Das ist aber auch belanglos, ähnlich wie ob ich mir etwas einbilde oder ob es tatsächlich so ist. Das Wichtige liegt eine Stufe tiefer, nämlich in der Tatsache als solcher. Ich glaube, ich habe eine in sich abgeschlossene Begründung, warum ich die Hand unbeantwortet gelassen habe. Die nachfolgenden Begründungen klingen viel zu idealistisch, sie lassen sich aber alle auf einen egoistischen, somit realistischen Nenner bringen. Eine solche „Freundschaft“ ist wie ein Gesellschaftsspiel, eine Institution zur Verkürzung und Würzung der Zeit, ein Tun als ob, man kokettiert mit etwas Ernstem, sagt vieles durch die Blume, heuchelt vielleicht auch nur. Man versucht, sich in das Vertrauen des anderen einzuschleichen. Die an sich unedlen Triebe werden, wenn es hoch kommt, durch das, was man Liebe nennt, veredelt. Dadurch, daß das Bewußtsein völlig aufgehoben wird, man also aus dem Standpunkt des Beobachters in den des Akteurs gedrängt wird, werden sämtliche Bedenken, hauptsächlich wohl moralischer Art, beiseite geschoben. Die Aktion wird natürlich (wieder natürlich?). (Bei diesen Sätzen komme ich mir wie ein Botanikprofessor vor, der über das Zwiebelschneiden referiert.) Normalerweise sind diese Bedenken irgendwo ins Unterbewußtsein eingebettet, denn analysiert man Ziele und Methoden, müßte doch jeder pferdescheu werden. Diese Verurteilung ist nicht moralisch, ich weiß zwar nicht, was sie sonst ist, ich weiß nur, daß diese Gedanken an sich ketzerisch und sinnlos sind, weil sie in der Aktion aufgehoben werden. Das schlimmste ist nun, daß ich dieser mir nicht sinnvollen, gerechtfertigt erscheinenden Behandlungsweise eine Antithese entgegenzusetzen habe. Wäre ich nur rein destruktiv, würde ich reumütig zum normalen zurückkehren.

Diese ganze Kritik erscheint von [Herrman] Broch infiziert, ich habe diese Gedanken aber schon gewälzt, bevor ich „Pasenow oder die Romantik“ gelesen habe. Broch hat mich nur beflügelt. In einem mißverständlichen Paradoxon strebe ich eine „Liebe ohne Vertrauen“ an, um der „Inflation der Gefühle“, wie ich sie heute als ein Erzübel im Umgang junger Menschen untereinander empfinde, entgegenzuwirken. Ich will das intellektuelle Gegengewicht mit absoluter Ehrlichkeit erreichen, indem man immer das zu sagen versucht, was man denkt. Dabei habe ich Schiffbruch erlitten, vielleicht nur ein Leck, das ich ausbessern könnte, aber zwei Folgen sprechen dagegen. Erstens zwingt die eigene Offenheit, Ehrlichkeit den Gegenüber zu ähnlichem, man oktroyiert ihm seinen eigenen Stil auf. Zweitens meinte Sie, wenn man alles sagt, ist der Reiz des Spieles verloren, der gerade in der Zwei(Viel)deutigkeit des Unausgesprochenen liegt. Diese Meinung kann ich aber widerlegen, denn Worte sind immer nur Stückwerk, die die Wahrheit wie auf Krücken umreißen, deren Genauigkeitsspielraum die Wahrheit auch nicht annähernd erfassen kann, daß da keine Gefahr für die schillernde Vieldeutigkeit besteht. Andere Gegenargumente fallen mir nicht ein, außer daß man es normalerweise nicht macht. Man schafft es auch nicht so einfach, es bedarf jedesmal einer neuen überwindung.

Daß das die mir einzig mögliche Lösung im Umgang mit anderen Menschen ist, liegt anmeinem überentwickelten Gewissen (blöde, wenn man so etwas von sich sagt). Es passiert mir sehr leicht, daß ich mich in einem Gespräch spalte, der eine Teil agiert und der andere Teil beleuchtet die Zweideutigkeiten, Anzüglichkeiten, die der andere herauslesen könnte! Nach einem weiteren Prinzip, meiner Moral, wechsele ich und Du aus und beleuchte dann alles noch einmal. Dann muß ich immer noch mit meinem Gesagten einverstanden sein. Literarisch könnte man das sehr schön darstellen, einAffe grinst hämisch in meinem Kopf, in dem Moment, in dem ich zum Beispiel auf Effekthascherei aus bin. Diesem schizophrenen Zustand, der sich leider sehr leicht einstellt, will ich unter allen Umständen entgehen. Vielleicht ist das sogar eine mögliche Invariante in meinem „ich“. Sie schlösse auch Deine (ehemals?) angestrebte Einheit, Harmonie des Möglichkeits-menschen in sich ein. (Das war das egoistische Moment). Diese Ideale, die nicht an eine Person gebunden sind (Pete [Peter Brown?], braune Augen, usw.) fühle ich mich stark genug verwirklichen (sprich erst? einmal auf die lange Bank zu schieben) zu wollen und keinen Kompromiß mit der Gegenwart zu schließen.Warum ich alles schreibe, und was mich eigentlich am meisten interessiert, ruht alles in sich selber, ist es eine mögliche Wahrheit, ob eine ungewöhnliche, ist egal? Verwechsele ich nicht Dichtung mit Leben oder Leben mit Dichtung? Eine andere Frage, wie sich mein Gewissen mit der ausgestreckten Hand vereinbart, könnte ich Dir ohne Widerspruch beantworten.

Merkwürdig ist weiter, daß mich eine merkwürdige Ruhe erfaßt hat. Ich komme mir vor wie nach der letzten Ölung, abgeschlossen mit allem und völlig in mir selber ausbalanciert. Das, obwohl es mir körperlich sauschlecht geht. Ich spiele mit dem Gedanken, das Studieren aufzugeben. Aber bis jetzt ist es noch ein Gedanke, an dem ich meine Widerstandskraft schärfe. Hier ist irgendetwas faul, der Zustand ist zwar sehr schön (ein labiles Gleichgewicht), aber auch er hängt psychologisch erklärbar mit dem restlichen Mist zusammen. Dir diese psychologischen Zusammenhänge zu erklären, gliche einer Exhibition, darum fallen sie weg, nur so viel, ich glaube, daß meine ganzen Bedenken gegen eine Vergewaltigung durch Vertrauen und meine Ziele, Verfremdungseffekte in der Liebe, psychologisch aus einer Unfähigkeit normal den Hof zu machen, entspringen. Ich kann (will?) es nicht, weil ich mir lächerlich, falsch, verlogen (der hämische Affe) vorkomme, also rede ich mir prinzipielle Bedenken ein. Eigentlich müßte eine solche Selbstanalyse sehr deprimierend sein, aber auch hier meine unerklärliche Ruhe, mein „ich“ liegt immer eine Ebene tiefer. Ich bewege mich zwar in einer Spirale nach außen, aber gepackt habe ich den Grund noch nicht, ist wohl auch unmöglich (der Mensch, das Wesen der Mitte). Die einzelnen konzentrischen Kreise scheinen mit wachsendem Radius mehr vonmeinem „ich“ zu abstrahieren. Ich bin mal gespannt, wie viel man von mir abstrahieren kann, ohne daß ich verloren gehe. Es ist ein lebendiges Experiment, dessen Ausgang der Tod ist und dessen Teilergebnisse Dichtung wären, sind.

Bei einer Kritik dieses Briefes, übersieh bitte den willkürlichen und nicht erklärten Gebrauch des „Normalen“. Ich glaube, ich beherrsche nur die Mathematik, nicht aber die Physik des Lebens. Die Länge des Briefs erklärt vielleicht seine Verspätung.

Dein

Bernd


[Nach dem Abitur war ich im März 1962 noch mal zum Skilaufen in Lech, bevor ich am 1.4.62 zum Grundwehrdienst nach Koblenz eingezogen wurde und bis Ende März 1964 bei der Bundeswehr blieb. Bernd begann sein Physikstudium im Sommersemester 1962, das damals nach den Osterferien im Mai begann. Der undatierte Brief scheint aus dieser übergangszeit zu stammen.]