Bad Godesberg, den 4.4.[62]



Lieber Kluti

Ich werde mich bemühen, meine Gedanken so verbindlich und klar zu formulieren wie ich kann. Sie haben es bitter nötig, wie Du bald bemerken wirst. Unser Verkehr wird sich in der nächsten Zeit auf diese Ebene verlagern und beschränken und ich bin darüber sogar erleichtert. Ich glaube, hoffe, daß die schriftliche Verständigung zu einem höheren persönlichen Einsatz zwingen wird.

Ich weiß nicht, ob es Dir aufgefallen ist, ich weiß nicht einmal, ob ich es mir nur einbilde - mein Zugeständnis zu jeder Beobachtung, die mich selber betrifft - aber ich fand, wir mieden uns in letzter Zeit. Von mir glaube ich das sagen zu können, ich weiß nur nicht, ob es in Reaktion auf Dich oder auf mich selber zurückzuführen ist. Und wenn wir uns sahen, sind wir uns mit Worten aus dem Weg gegangen. Erinnerst Du Dich noch an Deine “erstaunte?“ Bemerkung am vorletzten Tag, daß wir uns nie mehr über meinen [vermutlich den oben stehenden] Brief unterhalten hätten? Ist das ein Symptom der Gewöhnung, oder ist es das Gefühl, sich nichts bedeutungsvolles mehr sagen zu können oder zu wollen? Ich wage das nicht allein zu entscheiden. Mit dem „Brief“ ist auch eine Zeitangabe des „Entfremdens“ gegeben. Ich bin mir noch nicht ganz schlüssig, aber die letzten Colloquien, bei denen ich ein gutes Gefühl, wenigstens teilweise, hatte, waren die über die übereinstimmung mit sich selbst mit Blickrichtung [‚Sigmund] Freud (ich habe es in der Verkürzung sehr entstellt), vor, um? Weihnachten. Ich bin, wie man schon aus dem bisherigen Verlauf des Briefes merken kann, ein etwas hilfloses Bündel Fragezeichen. Ist es eine notwendige Entwicklung? Eine, wenn auch nicht notwendige und hinreichende Erklärung könnte ich für mich vorbringen. Ein merkwürdiger Zustand: Ich erkläre mir, ich habe kein ich, sprich kein Zentrum, keinen Fluchtpunkt aller Gedanken und Handlungen, keine absolute Instanz, (ontologische Seinserfahrung, hä, hä) und kann dadurch mit aller Welt über mich und meine Probleme wie über einen Dritten sprechen. Im Gespräch wird eine mögliche Variante von mir berührt, deren Gegenteil aber genausogut auf mich zutreffen könnte. Ich fühle mich wie ein Schauspieler ohne Ich. Das, was ich bin, wird nur durch Korsettstangen der Konvention, nicht durch meine überzeugung erreicht und ist somit beliebig variierbar, vom Heiligen zum Schweinehund, vom Kommunist zum Kapitalist, vom Asketen zum verhurten Prasser. Dadurch, daß ich ohne Zentrum bin, ist die Forderung nach einem einzigen zweiten Menschen - in der Jugend einem Freund, später im Idealfall Funktion der Frau (zweite mögliche Erklärung), dem man dieses Zentrum mitteilen will, weniger brennend geworden. Das Schamgefühl bei einem persönlichen Gespräch, sonst durch Freundschaft ist jetzt generell ausgeschaltet, da es gar kein persönliches Gespräch im alten Sinne eines Gesprächs über mich („ich“) mehr ist. Das wäre eine mögliche Erklärung meinerseits. Immerhin ist ja noch die gemeinsame Erinnerung vorhanden, die in den meisten Fällen schon zur Freundschaft genügen muß. Ein sehr pessimistischer Brief? Ich weiß nicht, ich fand ihn nur nötig, kein Anfang, kein Ende, aber vielleicht ein Orientierungspunkt. Auf Deine Karte zu antworten, ist sehr schwierig, ich werde versuchen durch häufiges Schreiben eine moralische Stütze (Streichholz?) zu geben. (Mein Dienst fürs Vaterland).Viele Grüße an Hartmut, auf den auch der Mittelteil des Schauspielers ohne ich gemünzt sein könnte. Ich überlasse es Dir, ob er den Brief lesen soll oder nicht.

Herzlichst

Dein

Bernd


P.S. Vielleicht sollte man den zentralen Gedanken über „mich“ auch auf diesen Brief anwenden, daß ich genausogut das Gegenteil hätte schreiben können.



[Mit Hartmut ist Hartmut Palmer gemeint, dem einzigen Klassenkameraden, der wie ich nach dem Abitur zur Bundeswehr gegangen ist. Dies war Bernd bekannt.]