[Nov. 62 ?]

Lieber Kluti

Dein Brief hat mich überhaupt erst wieder an Deine Existenz erinnert. Das ist unter den gegebenen Umständen eigentlich verwunderlich, denn so viel Zeit zum Nachdenken habe ich noch nie gehabt, eigentlich weniger verwunderlich, denn so viele und besonders so gravierende Probleme sind mir noch nie aufgestoßen. Ich dreh mich zwar immer im Kreis, bin aber doch schon spiralen-förmig bis an einige Ränder meiner Existenz gekommen - ich sage ausdrücklich meiner, weil es nicht auswechselbar und gar durch „menschliche“ zu ersetzen ist, denn obwohl sich das Allgemeine in dem Individuellen äußert, ist der umgekehrte Schluß verboten, solange es sich nur um persönliche Konfessiones handelt - und schwebe jetzt in einem Interregnum, das durch die Krankenhausatmosphäre nur unterstützt wird. Ich kann mir nur noch wenige Institutionen und Organisationen vorstellen, bei denen die Notwendigkeit eines eigenen Engagements, für mich eine essentielle Eigenschaft des menschlichen Lebens, so planmäßig und lückenlos beseitigt wird. Sarkastisch könnte man als umfassendste Organisation ihrer Art die Bundesrepublik Deutsch-land nennen. Wenn man so will, genieße ich es, kein vernünftiges Gespräch zu führen - noch nicht einmal die Besuche von Hans-Eberhard schließe ich aus - die Schwestern anzuflachsen und, um mich eines militärischen Vergleichs zu bedienen, sie mit Munition zu beschießen, die im Ziel mit Verzögerung explodiert (Verzögerung = Begriffsstutzigkeit) dadurch aber um so heftiger wirkt, ich habe manchmal den Eindruck, als fechte ich mit einem Florett gegen Bohnenstangen, von jeglicher medizinischen Verantwortung mir selbst gegenüber erlöst zu sein, denn besser als im Moment kann ich für den Augenblick nicht untergebracht werden (ein Armutszeugnis für die deutsche Medizin und das Engagement der ärzte), und last but not least nicht mehr in der Schule sein, denn meine schulischen Erinnerungen scheinen mir heute wie Albträume, denen ich endlich entronnen bin. Ich glaube, und es ist auch besser so, keiner von Euch, Du eingeschlossen, hat je und wird wohl auch nie erfahren, was die letzten 3 Jahre, in denen ich mit einem viel größeren Recht hätte zu Hause bleiben können und meistens auch sollen, für mich bedeutet haben. Jetzt fehlt nur noch die „vita activa“, dann habe ich hoffentlich ein Pendant zu Deinem Brief geschaffen. Ich habe immer geglaubt, ein Krankenhaus sei eine erotisch mindestens verdünnte, wenn nicht freie Zone, aber weit gefehlt, es geht sogar so weit, daß man sich selbst gegenüber als Heuchler vorkommt, nur weil man sich nicht genauso schweinisch einschätzt, wie die meisten anderen, wobei „die meisten“ eine anscheinend überflüssige Einschränkung ist. Nach meinen Erfahrungen ist „vita activa“ nur ohne jegliches contemplative Element zu praktizieren, da es sonst sofort zu einer Schizophrenie führt, in der man sich selber ankotzt. Hält man diesen Kloakenzustand, in dem man sich mit seinem eigenen Unrat besudelt, aus, so ist wohl die dann scheinbare Antinomie Einzelgänger - Vita Aktivist zu überbrücken. Hier habe ich, ohne es zu begründen Einzelgänger - Vita contemplist gleichgesetzt.
Dein Bernd

Einige Gedanken zu einer Antwort

  • Zwiespältige Gefühle beim ersten Satz. Zu deutsch heißt er: ich habe Dich vergessen. Aus der nun folgenden Entschuldigung schließe ich, daß ich wohl ein Problem, aber ein weniger gravierendes bin. Ein „Interregnum“ bei den Problemen. Man kann eigentlich nur von einem Interregnum sprechen, wenn es vorbei ist!
  • Die Genüsse eines Menschen im Krankenhaus
  • Zu der erotisch freien Zone: die ist da, wo keine Menschen sind. Also etwa an den Polen oder mitten in der Sahara. Aber was macht diese bissige Bemerkung in einer Abhandlung „vita activa - vita contemplativa“