Lieber1 Kluti
Ich bin sehr erleichtert, daß Du meinen Brief nicht mißverstanden hast. Ich hatte mir schon Vorwürfe gemacht, Dich jetzt auch noch mit solchem Mist zu belasten, auf der anderen Seite war irgendetwas in mir, das diesen Brief schreiben mußte. Ich könnte jetzt auf einiges antworten, einiges fragen - ich bin nicht aus allem klug geworden - aber ich glaube, ich lasse es, weil ich alles schon vorher geahnt habe und auch versucht habe in meinem Brief anzudeuten - dieses Eingeständnis degradiert zwar meinen Brief zu einer Provokation, aber warum nicht - und schreibe von ganz anderen Dingen, die vielleicht am Rande liegen und von Dir nur als Füllmaterial aus-gelegt werden könnten, nämlich von den so zahlreichen Veranstaltungen unserer Klasse.
Brach eröffnete den Reigen - seit Du eingezogen worden bist - auf der Cäcilienhöhe setzten wir ihn fort und demnächst will unser Meisterlein uns noch einmal alle zu sich nach Hause einladen, wenn er wieder ein Alibi braucht um sich zu besaufen. Aber schön der Reihe nach, bei Brachs
(Will und sie) wurden wir von ihr empfangen, schon peinlich, und dann zu ihm geleitet. Es kamen immer mehr, einige zu deutliche Bemerkungen seinerseits „soviele habe ich aber nicht erwartet“, dabei waren wir insgesamt nachher nur 15, wie angekündigt, Platzmangel, Stühleschleppen, aber schließlich saßen alle in einem großen Kreis im Wohnzimmer, er in einer Ecke, mehr physisch als anders da, und quatschten, wie in einer Pause oder in seinen Stunden. Er beteiligte sich nur sporadisch am Gespräch, Norkus2 saß neben ihm und auf der anderen Seite Margot2. Um 11.00 Uhr rollte er den Teppich im Nebenzimmer zusammen und spielte vom Tonband Musik, deutsche Schnulzen. „Eine Rooose aus Athen“, die er ein paar Tage vorher aufgenommen hatte und forderte uns zum Tanzen auf. Es wurde auch eifrigst befolgt, im ganzen haben vielleicht 5 Paare in 2 Stunden ein Tänzchen riskiert, ob es auch an der Musik oder der Atmosphäre lag, wage ich nicht zu entscheiden, an beidem wahrscheinlich. Dann hat Brach das „Gespräch“, die Durcheinander-quatscherei auf Tonband aufgenommen und uns dann wieder vorgespielt, ein ausgezeichnetes Mittel die Unterhaltung zu strecken, zeitlich zu verdoppeln! Aber nicht sehr ästhetisch, wenn ein Fauser2 aus seinem Geräuschreservoir auspackt und in das Mikrophon feixt, schnalzt und rülpst. Um 1/2 2 war Schluß, nachdem Brach für mein Gefühl schon eine Weile auf glühenden Kohlen gesessen, wir aber aus bescheidener Rache ein zähes Sitzfleisch bewiesen hatten. Er hielt den üblichen Sermon zum Abschluß.
Dennoch, die Cäcilienhöhe steht dem in vielem nicht nach, es nannte sich zwar Klassenfest und an die Stelle eines verklemmten, spießigen und langweiligen Mathematiklehrers war ein sauflustiger, geistig etwas regerer - wenigstens am Anfang - Deutschlehrer getreten. Gedauert hat es genausolange. Ab 11 Uhr saß Heide an meinem Tisch, nicht meinetwegen, Hella, Hilke, Dieter3 und Ulrich saßen auch noch dran, wie ich an diesen Tisch verschlagen wurde, weiß ich nicht. Er hatte schon eine hohe einstellige Zahl Steinhäger, Biere und ich glaube eine zweistellige Zahl Weingläser, Viertele intus und sagte nur noch Ah...Ah, tja Kinder, nicht ... usw. Ich entfloh auf die Tanzfläche. Soviel, wie auf diesem Klassenfest habe ich noch nie getanzt. In diesem besoffenen Zustand fuhr er [Heide] uns dann tatsächlich noch nach Hause, Kurven erkannte er nur sehr spät, fuhr sie links und eckig und kommentierte sein Fahren wie ein kleines Kind „jetzt wollen wir mal nach links fahren, das Steuer drehen, nicht Hilke, soooh ...“, sie saß nämlich auch noch vorne. Trotzdem sind wohl alle heil nach Hause gekommen, ich habe jedenfalls von keinem Unfall in der Zeitung gelesen.
Pfingsten fahren wir doch nach Paris, Wilhelm hat irgendeine christliche Organisation mit Spottpreisen entdeckt, deren Kosten er mit dem Verkauf eines unserer Mädchen (welches wohl?) decken will, einer seiner so originellen und witzigen Witze, mit denen er uns an dem Abend überraschte und nur erstaunlich geringe Heiterkeitserfolge erzielte. Scheinbar kommen immer mehr hinter seine Leere und es wird Zeit, daß wir uns ganz trennen, damit er sich nicht völlig abnutzt und am Ende selber auch noch ganz verbraucht vorkommt. Ich hoffe, der Bericht ist erschöpfend, wenn auch etwas einseitig, ich selber habe immer nur gestaunt, warum es die anderen nicht genauso gesehen haben, aber sie sind das wohl gewohnt. Hans-Eberhard kommt dieses Wochenende wieder, er hat mir 4 Briefseiten ohne Gehalt geschickt, aus denen nur zu entnehmen war, daß dort Schnee und Menschen sind.
Dein
Bernd


  1. Der undatierte Brief scheint seinem Inhalt nach auch aus dem April 62 zu stammen.  

  2. Mit Norkus, Margot, Fauser, sind unsere Mitschüler Arnulf Norkus, Margot Seidel und Bernd Fauser gemeint. 

  3. Dieter ist Dieter Schüller.