Bad Tölz, den [Ende 62]

Lieber Kluti1
Verzögerungen verständlicher und wohl auch welche unverständlicher Art, solche, die mit Tatsachen erklärt werden können und welche, die sich im Dunkel der Persönlichkeit irgendwo im Vor- oder Unterbewußtsein einer weiteren Verfolgung entziehen, haben die Beantwortung Deines Briefes verhindert. Verständliche: weil ich inzwischen bis auf weiteres nach Bad Tölz in Bayern abgeschoben worden bin. Von allen Plänen realisierte sich dieser als erster und um den Forderungen der Umwelt, daß etwas geschehen müßte, nachzukommen, habe ich eingewilligt, nicht um mit einem Wechsel des Schauplatzes vielleicht eine Intensivierung der Behandlung zu erreichen - eine meinen Vorstellungen entsprechende Auslastung ist wohl in Deutschland nicht zu verwirklichen - sondern um, und hier berühre ich schon das Entstehungsgebiet der Verzögerungen unverständlicher Art, in der Ferne unerreichbar für jedermann zu sein.
Leider habe ich keine Abschrift meines letzten Briefes und kann also nur ungefähr versuchen Deine Mißverständnisse zu beseitigen. Dazu muß ich das komprimierte Knäuel, denn ein solches war der ganze Brief, etwas entwirren und breiter darlegen. Das fällt mir sehr schwer.
Ich werde wahrscheinlich nie wieder laufen können, im normalen Sinne ohne Hilfsmittel äußerst unwahrscheinlich, um nicht zu sagen unmöglich, eventuell mit Schienen und Krücken und dann nur kürzeste Strecken. Ich werde mir also eine Rollstuhlperspektive anschaffen müssen. Zudem drohen zwei weitere Operationen, eine relativ harmlose und eine bei [Professor] Röttgen. Letztere setzt den circulus vitiosus fort, nach dem jeder Eingriff einen weiteren nach sich zieht. Diese Aussichten habe ich als Realist in einer pessimistischen Lage, aber nicht als Pessimist erkannt, um den Unterschied, an dem mir so viel liegt, daß man mich fast einen psychologisch verkappten Pessimisten nennen möchte, genau zu akzentuieren. Im Grunde ist es aber gleichgültig, bisher hätte auch der Pessimist immer recht gehabt. Der Kampf um die Rollstuhlperspektive ist in mir voll entbrannt. Wieviel kann man von den Lebensmöglichkeiten eines normalen Menschen abziehen, ohne daß das Leben seinen Wert verliert? Die Frage nach dem Wert des Lebens scheint mir im Gegensatz zu der nach dem Sinn zulässig, da sie nur für mich selber beantwortbar ist, ohne irgendwelche Grenzen nach außen zu überschreiten. Der Sinn ist nur von einem transzendenten Standpunkt aus begreifbar, der Wert aber unter durchaus immanenten Gesichtspunkten. Wo liegt überhaupt der Wert des Lebens? Ist er für mich nicht unerreichbar geworden? Präzise muß ich diese Fragen nur für mich verbindlich beantworten und die Konsequenzen daraus ziehen. Bis jetzt habe ich sie mir nur gestellt, ich war noch zu feige, sie zu beantworten, und nur ein kaum glaublicher Ehrgeiz, nicht zu unterliegen hält mich auf recht eigenartige Weise aufrecht. Ich bin ein ganz guter Schauspieler geworden, ich habe alle Leute überzeugt, ich sei ein ungebrochener Optimist, ich glaube ihren schöngefärbeten Zukunftsaussichten, die sie mir in anderer Form schon vor zwei, drei, fünf Jahren aufgetischt haben und zu denen sie doch eigentlich durch den Gang der Ereignisse jegliche Legitimation verloren haben dürften. Außerdem heuchle ich Gleichmut, Gleichgültigkeit und Abgeklärtheit und führe nur solche Gespräche, die den von Dir und Hilke beobachteten Zwang zur Ehrlichkeit für den Gegenüber aufheben. Wenn man so will, lasse ich niemand an mich heran und meide die früher erkannte Regel, daß man ein Gespräch nur führen kann, wenn wenigstens einer der Beteiligten etwas von sich selber gibt. Die Kunst, dennoch zu reden, habe ich in Bonn gelernt, denn das ist das Eigenartige, ich bin noch nie so gut mit anderen Menschen ausgekommen wie jetzt und hätte viele Gelegenheiten gehabt, andere in Diskussionen zu verwickeln, die mir am Herzen liegen. Ich hoffe, dieser Zustand ist nur ein Interregnum, denn er ähnelt in seinen Auswirkungen auf mich selber jener Antinomie des aktiven Kontemplisten. Ich weiß nicht, wie ich Dir die Erschütterung vieler, wenn nicht aller meiner Grundlagen klarmachen soll, ich habe mich erst einmal wie eine Schnecke verkrochen, manchmal scheint es mir, daß jene unerklärliche innere Ruhe, die mich nach dem Abitur beschäftigte eine Vorform der jetzigen Erscheinungen war und bereite nun schonend eine Umorientierung meines Ichs vor. Daß Du bei diesem Prozeß, wie alle anderen Menschen, in den Hintergrund treten mußt(est), erscheint mir eigentlich nur natürlich.
Und jetzt ganz massiv: ich sprach von einer „wenn nicht freien, so doch verdünnten erotischen Zone“! (Oder umgekehrt, aber nicht nur von einer freien Zone)
Weiter: was verstehst Du eigentlich unter vita aktiva? In „Narziß und Goldmund“2 sollte es doch ganz klar herausgekommen sein, und falls Du Hesse nicht akzeptierst, in der Entstehungszeit dieser Begriffe meinte das eine wohl den Mönchsstand und das andere den Ritterstand, dessen Minnespiele um wip und truive Dir als Heideschüler doch noch in Erinnerung sein dürfte. Ich habe das Begriffspaar immer für die beiden möglichen Lebensformen, die aus der Paarung von Geist und Materie entstanden sind, gebraucht, daß also entweder der Geist die Materie oder umgekehrt die Materie den Geist beherrscht. Für mich besteht sehr wohl eine Verbindung zwischen Erotik, entfesselter Sinnlichkeit und vita aktiva. über den Aktivisten als Einzelgänger möchte ich erst nach einer eventuellen Darlegung Deinerseits etwas sagen.
Das Versöhnliche dieses Briefes liegt in der Tatsache, daß er geschrieben wurde!


  1. Anfang 63, genau ein Jahr nach dem Abitur, trafen sich die meisten Mitschüler der Abiturklasse wieder - offenbar habe ich Bernd davon in einem Brief berichtet. Er antwortete darauf 

  2. von Herrman Hesse