[Juni 1961]

Lieber Kluti.

Wenn ich jetzt wäre, ließe ich allen sich anscheinend anbahnenden Mißverständnissen freien Lauf und wartete gespannt „ob der Knoten sich von selber löst“. Aber das liegt mir nicht. Daß die Schrift schlecht wurde, tut mir leid, aber versäumt hast du nicht allzuviel, auch wenn du das mit deinem „verhängnisvollen“ Scharfsinn als Trick bezeichnen wirst. Du zwingst mich, die Pointen zu erklären, ein sehr schlechtes Zeichen für meine Bemerkungen. Hans-Eberhard ist doch wohl ein gemeinsamer Bekannter (ein Brief an ihn ist mit deinem zweiten weggegangen) und deine Eltern sind doch wohl mehr als Bekannte, auf deiner Seite. An ein Fragezeichen kann ich mich nicht mehr erinnern. Und das x mit der fiesen Bemerkung war ein Optativ, mir ist keine eingefallen. Und nun zu den ganzen Spinnereien auf der letzten Seite. Erinnerst du dich noch an ein Gespräch vor ungefähr 2 Monaten in dem ich erklärte, daß ich wieder jemand (femininum) soweit abstrahiert hätte, daß ich ihn (sie) überwunden hätte. Dabei habe ich mich über die zwiespältigen Gefühle der Leere gewundert gehabt. Diese Leere ist immer noch vorhanden, ich fülle sie zwar mit Phantasie-gebilden, außerdem finde ich Hella äußerst fad. Vielleicht habe ich diese Stelle falsch verstanden, aber man konnte sie so verstehen. Ich werde mich in Zukunft bemühen, deutlich bis zum Schluß zu schreiben, auch sämtliche Bemerkungen knapp und klar zu formulieren, einschließlich der fiesen. Meine Meinung zu einem „Durst“ habe ich schon geschrieben und zu Uwe - was soll ich da sagen, das muß doch Hella entscheiden. Aber nun Schluß mit dem ganzen Dreck. Mir sind einige Lichter aufgegangen, als ich Staigers Goethe-Interpretationen zu Faust 1 und 2 und seine Sätze über das Verhältnis Goethe - Schiller gelesen habe. Warum haben wir, als wir Don Carlos interpretiert haben, nicht auf Schillers Verhältnis zu Kant hingewiesen. Ein meiner Meinung nach verhängnisvoller Fehler, denn Schiller setzt sich sehr mit Kant auseinander. Er bezeichnet Kant als die „Kopernikanische Wende“ in der Philosophie. Die Vernunft bestimmt die Umwelt, hat sich aber nach bestimmten Gesetzen zu richten. Mensch, Natur [einerseits] und Vernunft [andererseits] sind 2 völlig getrennte Welten, und Marquis Posa muß darum tragisch enden, weil er einen Begriff, der in die Welt der Vernunft gehört, auf die Menschen anwenden will. Es endet zwar auch mit der Tragik des Menschlichen, aber der Weg dahin erscheint mir, und wenn du aus meiner stümperhaften Gedankenwiederholung klug wirst, auch dir, wesentlich einfacher und nicht so gewaltsam. Wieder etwas, was man vor 3 Monaten hätte wissen müssen. Mit dieser Trennung läßt sich noch einiges einprägsames definieren. Wenn etwas in Natur und Vernunft übereinstimmt, so ist es schön. Auch die Faust II-Interpretation ist toll. Wenn wir ihn besprechen, kann ich vielleicht in einigem glänzen, obwohl ich es ja woanders viel nötiger hätte. Ich hoffe, du kannst mein Gekraksel lesen, ich schreibe in einer sehr unbequemen Stellung, auf dem Bett sitzend ohne Tisch.Viele Grüße an deine Eltern.

Dein

Bernd