9.4.60



Lieber Kluti.

Entschuldige, daß ich auf deinen Brief noch nicht geantwortet habe. Ich habe zwar nicht das von dir so heißersehnte Rezept gegen die Langeweile allgemeingültig gefunden, aber ich glaube doch von mir sagen zu können, daß ich nicht allzuviel Zeit mit Langeweile vertue. Es ist eben nur, wie gesagt, nicht auf andere zu verwenden. Du liest ehe schon und dich in und mit Gedanken zu beschäftigen, dir zu empfehlen, hat keinen Zweck, weil du dann fragst mit welchen Gedanken, und da weiß ich keine Antwort. Ich habe nur das Problem, mit welchen Gedanken, bei mir gelöst. Das klingt geheimnisvoll, ist es aber nicht, ich habe aber auch keine Lust, mich näher darüber zu erläutern. Nur habe keine Hintergedanken. Ich habe mich hier weder verknallt noch überhaupt Berührung mit solchen Wesen gehabt. Es lohnt sich (hier) nicht. Im übrigen ist mein Tages-rhythmus ähnlich dem deinen. Ich schlafe, lese, esse, gehe spazieren und fotografiere ( Der Satz müßte dir bekannt vorkommen). In der Frage, ob ihr herkommen sollt, weiß ich keine rechte Antwort. Es wäre schön, die Optimisten hier fast vollständig versammelt zu sehen, aber 1. die Bahnfahrt kostet 34,20 DM D-Zug hin und zurück, 2. die nächste Jugendherberge ist, glaub ich, auf dem Feldberg, 9km weit weg. Und um an einem Tag hin und zurück zu fahren ist die Strecke zu weit. Außerdem werden wir es doch wohl mal aushalten uns 3 Wochen nicht zu sehen. Also Interesse schon, aber ich lehne es ab. Schon mit Eugen ist es mir nicht recht, aber der Pimpf hat ja schon alles eingefädelt, daß man nichts mehr machen kann; außerdem will er trampen. Am Dienstag in einer Woche bin ich ja auch schon wieder zurück. Von den Ereignissen hier läßt sich eigentlich nichts berichten. Ich habe mein Zeugnis noch nicht (Eugen will es mitbringen), ich weiß nur, daß ich keine 5 habe. Der Heide ist ja komisch, ich habe noch kein Referat, das er aufgegeben hatte, gehört und er hat doch schon eine Menge verteilt. Da war ich ja zur rechten Zeit abwesend. Der arme Roland, da hat er ja Pech gehabt, daß die Hilke nicht sitzengeblieben ist. Deinen Zahlen läßt sich entnehmen, daß also 12 Mann (Frauen) mit einer 5 versetzt worden sind. Toll,toll. Und ich gehöre zu denen, die keine 5 haben. Wie kommt das nur? Besonders angestrengt habe ich mich nicht. Mangels Gelegenheit und Lust. Wieder ein Beispiel irrealer ? (du sagtest irrationaler) Lehrerpolitik. Daß wir Kafka lesen wollen ist ja interessant, aber wahrscheinlich doch wohl eine Marotte vom Meister, die er morgen schon wieder vergessen hat. Ich kann es mir nicht anders vorstellen. Der will ja so viel, um das alles durchzuführen bräuchten wir am Tag 5 Deutschstunden und noch viel, viel mehr Freizeit, die dann bei ihm drauf gehen könnte. Genug von Heide, wir haben Ferien. Hier haben sie noch keine und bei meinem Morgenspaziergang komme ich manchmal an dem Gymnasium (sie haben hier sogar eins, ich habe es zuerst nicht glauben wollen) vorbei und sehe die Leutchen schwitzen oder in der Pause über Noten und Fußnoten diskutieren. Es ist erhebend, wenn man selber nicht beim Klingelzeichen mit dem Pöbel unter die Fuchtel eines alten Paukers strömen muß. Aber spazieren gehen kann man in den letzten Tagen auch nicht mehr. Es regnet und nieselt und donnert. Alle Wege sind aufgeweicht. Und die Hauptstraße ist nicht so interessant, daß man sich sogar auf ihr naßregnen lassen will. So bleibe ich zu hier (Hause kann man wohl nicht sagen) und ergötze ! (häh,häh) mich an Goethe und Karl Jaspers. Oder ich schreibe eben Briefe. Aber damit will ich jetzt aufhören. Viele Grüße an Deine Eltern.

Dein

Bernd

Hoffentlich kannst du den Brief lesen.


[Mit Roland Raddatz wird ein weiterer Mitschüler genannt. Herr Heide wurde von uns „Meister“ genannt, wegen seines Vornamens Wilhelm („Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre“) und seiner Verehrung für Goethe. Es bestand unsererseits der Plan, Bernd zu besuchen. Nur Eugen hat ihn tatsächlich verwirklicht.]