1.5.62



Lieber Kluti

Fast komme ich mir untreu vor, weil ich seit Deiner Karte 3 Tage habe verstreichen lassen. Warum, weiß ich auch nicht, ich habe einfach kein normales Verhältnis zur Zeit. Ich möchte sie am liebsten aufheben, ich glaube, dann wären viele Probleme gelöst oder auf einfachere reduziert worden. Dieser Wunsch entspringt nicht dem „ ... verweile doch, du bist so schön“, so schön sind meine Augenblicke garnicht. (Ich hätte an Fausts Stelle auch immer Angst, daß ich, wenn ich einen Augenblick fixiert hätte, etliche andere, schönere, verpassen würde) Vielleicht liegt es an der Antiwelt (letzter Brief), die ich dann etwas ungestörter realisieren zu können glaube. Ich will die Zeit nicht absolut aufheben, sie soll nur für mich bedeutungslos werden. Vielleicht ein Zustand wie Neger im Kral, ohne deren dumpfes Dösen. Ist die Zeit bedeutungslos, ist auch der alte Konflikt vita aktiva - vita passiva [contemplativa], der latent immer noch irgendwo rumgeistert, gebrochen, denn dem „ich“ ist dann die harte Spitze des Sich-selbst-verwirklichen-wollens gebrochen. Das ist meine Hypothese, die ich logisch nicht (noch?) begründen kann. Noch etwas in diesem Zusammenhang. Die meisten (alle?) Menschen leben in (für) entweder Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Diese Kategorien wollen für mich alle nicht passen. Für die Gegenwart hindert mich meine Antiwelt, für die Zukunft die Unmöglichkeit, mich einer absoluten Wahrheit - nur der Glaube an eine solche macht den Blick in die Zukunft in der Unerschütterlichkeit möglich - zu beugen; deren Antithese mir nicht ebenso gerechtfertigt schiene, von der Vergangenheit der Widerspruch, daß es dann der Taten garnicht bedurft hätte, auch an Gedanken kann man sich erinnern. Es bleibt eben mein Verhältnis, das sich sozusagen komplex, irrational zu den linearen, rationalen Möglichkeiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verhält. (Vielleicht liegt der Fehler auch irgendwo in der Fragestellung.)

Mit dem Ende der Zeit wäre der vergleichende Maßstab, das, was alles relativiert, aufgehoben und damit auch alle moralischen und seelischen Probleme erstarrt. (Erinnert mich fast an [‚Samuel] Beckett) Alle Gefühle kommen doch nur in der Nivellierung durch die „aktiv“ in der Zeit zustande. Ist aber mit diesem Zustand aber nicht der Sinn des Lebens aufgehoben? Das ist die einzige Frage, an deren Berechtigung ich manchmal zweifele. Mir fällt es nur sehr schwer, sie in diesem Zusammenhang zu unterdrücken - ein Angelpunkt, das vorherige Gedankengebäude einzustürzen - aber ich glaube, man muß sich damit abfinden, daß es kein Fundament gibt, in den man den Sinn des Lebens einbauen kann. Oder: eine philosophische Spitzfindigkeit? den Sinn in das Leben selber hineinlegen! Ein ähnliches Problem, wie der Existenzbeweis Gottes. Morgen fängt das Studium an, dann werden meine Briefe vielleicht erträglicher.

Dein

Bernd