[Dezember 61]

Am Abend des 4. Tages vor dem schriftlichen



Lieber Kluti.

Ich fange an zu schreiben, ohne zu wissen, wann ich den Brief abschicken werde, vielleicht ob ich ihn überhaupt abschicken werde. äußere Anlässe zu schreiben gibt es (noch) keine, aber ob sich dieser Zustand so schnell ändern wird, ist fraglich. In der Schule gibt es nichts, was es wert gewesen wäre, zu behalten, geschweige denn es zu schreiben. Brach kämpft um eine Stunde, die er noch braucht, um uns die komplexen Zahlen zu servieren, ob wir sie verdauen werden, bezweifle ich auf das Entschiedenste (bittere Ironie). Heide ist wieder friedlich geworden, hast du ihn noch anders miterlebt? Wir haben die Weimarer Republik in einer Stunde durchgeackert und warten nun, daß er uns auf das Feld der Natura naturans treiben wird. Stadelmeier ist der gleiche schleimig arrogante Kerl wie immer und spielt weiter den Unerschütterlichen: „Na, das ist aber das mindeste, was ihr können müßt.“ Außerdem gefällt es ihm, uns Ratschläge à la Einbruch im Sekretariat und fotokopieren der Themen zu geben. Wenn der kleine Mann mal am Drücker sitzt. Der Rest ist ziemlich normal, außer dem hochverehrten Golinski. Er will immer ein Heft. Ich habe aber keins. Der arme Kerl. Reichlich arrogant und hybride mein Bericht, nicht wahr? Aber ich bin im Moment (im Moment?) nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Verknallt? Ja, aber wieder auf meine Weise. Das hat mir gerade noch gefehlt. Es ist doch merkwürdig, wie der Abstand, der durch einen Briefwechsel geschaffen wird, zum schwätzen verleitet. Anders hättest du wahr-scheinlich erst nach vollendeter überwindung etwas erfahren, wie gehabt. Aber ich hoffe sie ja auch bis du wiederkommst beseitigt zu haben. Ich komme mir wie ein Vulkan, der ausbrechen will und nicht kann, vor. Dieser Zwiespalt löst sich dann in die wunderlichsten Widersprüche auf. Ich habe Lust, mich einmal richtig zu besaufen. So, wie man sich‘s beim Militär oder so vorstellt. Dann bin ich wieder ausgelassen, fast albern und in so einem Zustand hat Ritze mir eine Sympathieerklärung gegeben. Nicht ich, sie! Aber ich wundere mich über nichts mehr. Das bedauerliche an dieser Haltung ist nur, daß diese Unausgeglichenheit meinen ganzen Arbeits-willen auffrißt. Man sollte doch meinen, daß ich diese Disharmonie in einer Arbeitswut ertränken könnte und wollte. Ich gehe viel spazieren (alleine) und neulich habe ich mich in ein Kino verirrt. Irgendeine Kriminalgeschichte mit Jean-Paul Belmondo, falls dir der ein Begriff ist. Ein Farbfilm über eine reiche, zerrüttete Ehe. Nichts besonderes, obwohl einige Monologe nicht fürs Volk waren. Meditation vor einem Spiegel. Der Kerl Jean-Paul Belmondo, dessentwegen ich wohl reingegangen war, hat mir eigentlich zugesagt. Er hatte ein bißchen von dem Schauspieler, wie ich ihn mir vorstelle. Ein bißchen brutal, vollkommen egozentrisch (im positiven Sinne, wenn das überhaupt geht) und so unkonventionell erfrischend. Dabei aber Taktgefühl, kein Widerspruch! Ich glaube ich vermische die Rolle und die Person, aber scheinbar ein guter Schauspieler, wenn man ihn mit der gespielten Person identifiziert. Eigentlich beneide ich dich, alleine, mit Büchern in einer anderen Umgebung ohne Eltern. Fast ein Idealzustand, wie ihn sich ein angehender Abiturient Bernd Best vorstellt. Ich habe eine Sucht allein zu sein. Außerdem werde ich zu Hause durch ... und ... immer nervöser. Ich weiß nicht warum, ich billige es auch nicht, ich finde es fast hysterisch, aber ... Das ist fast der einzige Wille, der mich vielleicht wieder antreiben wird, nach dem Abitur die Unabhängigkeit. Es wird sicher eine Enttäuschung werden, aber im selbsttäuschen bin ich schon immer ein Meister gewesen. Es ist doch merkwürdig, wenn man sich etwas - einbilden ist falsch - vormachen kann und es als Realität nimmt, aber dabei doch nicht den Unterschied zwischen [dieser] Realität und [der] Wirklichkeit vergißt. Klingt verworren, ist es auch. Aber dieses Prinzip der Selbsttäuschung kann sehr hilfreich sein. Dagegen spricht nur immer mein Wille zur Wirklichkeit. Dieser schizophrene Zustand kann auf Befehl an- und abgestellt werden. Eine Art Rauschgift, oder Bewußtseinsaufhebung (-trübung). (Realität = scheinbare Wirklichkeit - Wirklichkeit) Wenn ich mich so bespie[ge]le, warum bin ich dann verknallt? Das möchte ich auch wissen. Das einzige Heilmittel war da bis jetzt die Zeit, aber selbst die hat diesmal versagt. Alte Masche, sagst du, aber es ärgert mich doch, wenn ich mir nicht gehorche. Ich habe im Fernsehen einen Bericht über die Mauer in Berlin gesehen, an sich nichts besonderes. Seit 3 Monaten war da ein Kameramann an der Grenze und hat gefilmt. Dazu ein zwar nicht sachlich und nüchterner, aber trotzdem ein guter Text (das will was heißen). Er war fast lyrisch. Eine ähnliche Sprache (der Vergleich hinkt) wie „Hiroshima, mon amour“, vielleicht nicht ganz so schwülstig. Aber ich bin selten so tief beeindruckt worden. Die schreiende Brutalität ist selten so gut ins Bild gesetzt worden. Eine Szene werde ich nie vergessen. In einer Gruppe von Zivilisten ist ein 75 bis 80jähriger Mann, schon sehr gebeugt und zusammengeschrumpft. Er steht im Osten an einem der wenigen Punkte, an denen man noch dem Westen winken konnte. Da drängt sich in seinen Blick ein Vopo. Der Mann geht zur Seite, der Vopo auch. Dann werden die Leute von Vopos mit einem Gewehr in der Hand zurückgedrängt. Diese majestätische Grazie des Greises, der sich resignierend umdrehte und zurückdrängen ließ, war unbeschreiblich. Unbeschreiblich war aber auch die siedende Welle des Hasses und der Auflehnung, die ich dabei empfand. Vor diesen Bildern verblaßten selbst die dramatischen Momente einer Familie, die aus einem Fenster im 2ten Stock an einem Bettlaken flieht, und das Gesicht eines Vopos, der die Schmähreden der westberliner Menschen nicht mehr aushalten konnte, und dann über einen Zaun stieg. Ob einem Amerikaner oder einem Inder ähnliche Gefühle kommen, wenn er solche Dokumente sieht? Ich wußte garnicht, daß ich in so einem Zusammenhang solch tiefe, eruptive Gefühle entwickeln konnte. Wie muß denn dann aber den Leuten drüben zumute sein, die nicht einmal durch einen Film zufällig, sondern immer und überall solche Gefühle haben müssen? Nur so kann man wohl auch die Tatsache verstehen, daß immer noch Leute fliehen und versuchen zu fliehen. Ich habe es früher immer geahnt und jetzt glaube ich es ganz sicher. Ein gutes Gespräch gibt es nur, wenn mindestens ein Partner bereit ist etwas von sich selbst preiszugeben. Diese Tatsache bedrückt mich eigentlich sehr, denn beide Wege, der des Schweigens und der des Gespräches führen zu einer Mißstimmung mit mir selber, es sei denn, der andere gibt sich offen. Eine Erfahrung, die ich bei dem Berufsberater gemacht habe. Es ist wirklich erstaunlich, was ich alles über ihn weiß nach 1 1/2 Stunden, obwohl er mich beraten hat. Diese Erkenntnis hat mich zu diesem Brief „verleitet“ (inducere nicht adducere, wenn du dich noch an den Unterschied erinnerst) Nimm ihn nicht ernst, man kann ihn wohl garnicht ernst nehmen, und fasse ihn als ein Stück von einem imaginären Tagebuch auf, das du zufällig irgendwo gefunden hast, ohne den Verfasser zu kennen. Ich wünsche dir viel Schnee, ein frohes Weihnachten und so weiter.

Dein

Bernd


3 Tage später. Ich möchte wissen, warum ich dir diesen Quatsch schicke, vielleicht ist es nur Faulheit, was neues zu schreiben. Ich glaube, ich habe wieder ein labiles Gleichgewicht erreicht, vielleicht, weil ich muß. Denn ich habe mir einiges vorgenommen. Die letzten Schultage waren fast überflüssig, aber sie haben in mir ein Schuldgefühl hinterlassen, das ich nun durch ein wenig Fleiß mindern will. Die Mathematikarbeit bekommen deine Eltern per Post von Brach, 20 anderen Eltern (Schülern) geht es ebenso. Nach der Laufzeit deines Briefes wird dieser Brief erst nach Weihnachten ankommen, darum füge ich den obigen Wünschen noch einen guten Rutsch hinzu.


[In den Weihnachtsferien der Oberprima, kurz vor dem schriftlichen Abitur war ich in Lech zum Skifahren, Bernd zu Hause; Herr Golinski war unser Kunstlehrer, Marie-Luise Eglau, eine Mitschülerin wurde auch Ritze genannt.

E n t w u r f


Lieber Bernd!

Entschuldige bitte, wenn ich mich nur mit den Teilen Deines Briefes beschäftige, die mir am wesentlichsten scheinen. (Entschuldige gleichfalls, daß ich mich etwas vorsichtig ausdrücken werde).

Der erste Satz, über den ich gewaltig stolperte: „Dieser Zwiespalt löst sich dann in die wunder-lichsten Widersprüche auf.“ Zur Logik: meines Erachtens befindet sich ein Vulkan, der ausbrechen will und nicht kann, in keinem Zwiespalt. Es gibt da zwei Möglichkeiten einer Interpretation; entweder besteht der Zwiespalt darin, daß der Vulkan nicht weiß, ob er will oder nicht will (eine Deutung, die zwar naheliegt, der ich aber nicht zuneige. Ich glaube, ich kenne die Situation, und ich weiß, daß du dich dann nicht mit einem Vulkan vergleichen würdest). Oder es handelt sich nicht um einen Zwiespalt, sondern nur um eine bestimmte Situation (ich weiß, wie schwierig es ist, diese Situation exakt zu beschreiben). Daß sich ein Zwiespalt in Widersprüche auflöst ist mir nicht ganz verständlich. Außerdem finde ich keine Widersprüche an der folgenden Beschreibung Deines Zustands. Besaufen ist doch genau so albern, wie alleine spazieren gehen. Oder noch alberner. Zu dieser Meinung bin ich gekommen, da ich den Zustand des Betrunkenseins genauer kennengelernt habe.

Und jetzt zum Prinzip Selbsttäuschung. Obwohl Du versuchst, das ganze Problem in die Zukunft zu projizieren, nehme ich aus guten Gründen an, daß es für Dich eine gewisse Aktualität besitzt.

Ich bin erschreckt über die Paralellen zu früheren Zuständen, die meine Person betrafen; es kann allerdings sein, daß ich Deinen Brief nicht objektiv deute. Ich sehe vielleicht nur das, was ich selbst erlebt habe. Das ist erstens der Vulkan, zweitens das Prinzip der Selbsttäuschung, zu dem ich Dir nur schreiben kann, daß ich es selbst bis zum Erbrechen angewandt habe. Allerdings nur so lange, bis sich mein Zustand zu einer unerträglichen Schizophrenie entwickelt hatte, worauf dann die Reaktion eintrat, daß ich versuchte, mich nur noch an die Wirklichkeit zu halten. Ich wollte vor allem so sein und leben, wie ich wirklich bin. Daran wirst Du Dich sicher noch erinnern. Wir haben einmal ausführlich darüber und die dabei auftretenden Probleme gesprochen. Die Gefahr der Selbsttäuschung liegt darin, daß man sich nicht mehr so verhält, als ob man in der Wirklichkeit (nach Deiner Definition von Wirklichkeit und Realität) sondern in der Realität lebte. Ich glaube also nicht recht an einen Erfolg dieses Prinzips, obwohl ich einräume, daß das Ganze bei Dir nicht den gleichen Verlauf nehmen muß wie bei mir.

Daß das Allheilmittel Zeit, auf so kurze Dauer versagen muß, scheint mir nicht verwunderlich. Und bei mir hat sie sich als zweischneidiges Schwert herausgestellt.

über „Gespräche“ haben wir uns vor kurzem noch unterhalten und festgestellt, daß mindestens einer der Partner „etwas von sich selbst preisgeben“ muß, wenn ein wirkliches Gespräch zustande-kommen soll. Welche Situation Du allerdings meinst, wird nicht ganz klar. Es befriedigt mich nicht, daß Du Deine Erfahrungen mit der Berufsberatung heranziehst. Und daß sich Deine überlegungen auf unseren Briefwechsel beziehen, kann ich ebenfalls nicht glauben, denn ein Briefwechsel ist trotz mancher ähnlichkeiten kein Gespräch. Außerdem soll ich ja den Brief als Tagebuch auffassen, was mir leider (ich muß mich nochmals entschuldigen) nicht ganz gelungen ist.