Lieber Kluti

beneidenswert! Mit einem äußeren Ereignis und seinen Auswirkungen auf Dich selbst kannst Du 7 Seiten anfüllen. Ich bin in vollkommene Ereignislosigkeit gehüllt, monotone Wochentage mit gleichmäßig geregelter übungszeit und noch monotonere Wochenenden. (Ein keineswegs bedauernswerter Zustand. Er erleichtert die Konzentration auf das üben sehr.) äußeres gibt es also wenig zu berichten. Bleibt das, was man den Seelenroman nennt, zu welcher Kategorie auch [Robert] Musil nach Aussage eines meiner Mutter bekannten Literaturprofessors gehört. (Er nannte noch Meredith, Henry James). Aber da ich beschlossen habe, meine Seele, mein ich, einen Teil meines Geistes einzufrieren, ist auch dieser Weg versperrt. (Als wenn das ein aktiver Prozeß wäre. Es ist mir aufgezwungen worden.) Dieser Zustand, der mich zu einer bewußtlosen physiologischen Maschine mit mechanischer Denkfertigkeit erniedrigt, ist das, was Du meine Einsamkeit nennst. Wie immer, wenn ich ein Problem nicht lösen kann, steige ich eine Stufe tiefer (höher) und betrachte den ganzen Komplex, in dem das Problem ruht. In diesem Fall schreibe ich, warum ich nicht schreiben kann.

Leider habe ich noch keinen weiteren Bericht jenes ominösen Treffens (Hans-Eberhard wird sich wohl auch darüber auslassen.) Es wird interessant sein, beides zu vergleichen. Daß Dich die Klasse immer noch enttäuschen kann, finde ich merkwürdig. Wenn Du Interesse an den Individuen hast, mußt Du sie auch aus dem Verband herausgelöst betrachten. In der Klasse nehmen sie alle ihren gewohnten Platz ein, auch Du, und nur einzeln erkennt man eine änderung. Was hast Du erwartet, als Student wird man nicht geistvoller und einige haben sich mit Sprachen, Haushalt oder Praktikum herumgeschlagen. Daß sie sich nebenbei mit etwas beschäftigt haben, das Dich im Gespräch interessierte, halte ich für äußerst unwahrscheinlich. Ich dachte, das Problem Klasse sei längst passé. Ein Glück, daß Ihr nichts beschlossen habt, sonst hätte ich mich noch bei jenem seltsamen Gebilde bedanken müssen.

Meine erste Reaktion war und wäre, wenn es jemand anderes erwischt hätte nicht „der arme Kerl“ sondern „Mensch, hat der ein Schwein gehabt, daß ihm das nicht ein Jahr früher passiert ist.“

Wahrscheinlich werde ich ab 1. Feb[ruar] eine Woche zu Hause sein. Es ist noch völlig ungewiß. Heide hat doch sicher von irgendwelchen Amerikaplänen, von Mrs. Brown organisiert, gesprochen.

Sie scheinen sich zu konkretisieren. Aber auch im anderen Fall, dann werde ich nach London gehen, will ich zu Hause Station machen. Es bahnen sich Ereignisse an, die dann meinen spirrigen Briefen hoffentlich etwas mehr Fett versetzen werden. Bis Ende Januar ist meine Adresse bestimmt unverändert.

Daß vita aktiva und contemplativa wieder diskutierbar geworden sind! Deiner Meinung , daß sich der eine wie der andere Zustand durch das Bestreben auszeichnet, sich auch anderen Menschen aufzudrängen, kann ich weder zustimmen noch sie schlüssig widerlegen, weil mein „ich“ als Maßstab ausfällt. Mir scheint da entweder ein artfremder Kausalzusammenhang zu bestehen, der zwischen jeder Lebensform und ihrem Drang sich auszubreiten, zu finden ist, oder daß das sich Ausbreitenwollen eine zusätzliche Eigenschaft ist, die bei Dir in die Begriffe integriert ist, bei mir aber nicht. Ich kann mir mich sehr gut rein kontemplativ ohne Mitteilungsbedürfnis nach außen vorstellen. Die Anregung kommt aus mir selber und den Aktivitäten anderer. Als Voraussetzung will ich es annehmen. Vielleicht habe ich Dich auch falsch verstanden. Ich bedanke mich nochmals (Ich hoffe, meine Mutter hat es schon getan) herzlich für Weihnachtswünsche und -geschenk. Viele grüße an Deine Eltern

Dein

Bernd


Der Zwang zur Ehrlichkeit ist nicht totgeschwiegen, nur aufgeschoben.



[ Entwurf vom 15.1.63


Lieber Bernd!

Vielen Dank für Deinen lieben, am Anfang sehr ironischen Brief. Ich weiß nur nicht, worum Du mich mehr beneidest, um jenes äußere Ereignis oder um meine Fähigkeit, sieben Seiten darüber schreiben zu können.

Aber nun kurz etwas zu meiner Verteidigung, da Du mich mit Recht angegriffen hast: um es ganz deutlich zu sagen, für mich hat an diesem Abend die Klasse aufgehört zu existieren, (damit gibt es auch das „Problem“ Klasse nicht mehr. Ich hoffe, ich habe das hinreichend mit dem Verhalten Heides begründet. Ich weiß, daß Du diesen Auflösungspunkt der Klasse in frühere Zeiten verlegen würdest, oder Du wirst sogar abstreiten, daß es je eine Klassengemeinschaft gegeben hat.) über diese Tatsache war ich nicht so sehr enttäuscht, sie mußte früher oder später einmal eintreten. Ich dachte, ich könnte jetzt „die Individuen, aus dem Verband herausgelöst“ beobachten, wie Du so schön geschrieben hast. Ich dachte es würde eine weltoffene Atmosphäre herrschen, jeder hatte doch etwas anderes erlebt, jeder mußte doch zwangsläufig eigene Wege gehen, um sich zu behaupten - der Horizont der Einzelnen ist doch gewaltsam erweitert worden (wenn auch nicht immer nach oben, sondern wie zum Beispiel bei mir, nach unten). Aber denkste! Keiner hatte die Kraft, die starren, überkommenen Formen zu durchbrechen oder die schon längst falsch gewordene Meinung der Klasse über einen selbst vor den Kopf zu schlagen. Das hat mich enttäuscht (ich selbst schließe mich nicht aus). Aber genug von diesem leidigen Thema. Mich würde nur noch interessieren, was Du aus dem Vergleich zwischen Hans-Eberhards und meinem Bericht schließen wirst. Entschuldige mich also bitte, wenn ich in meinem nächsten Brief noch einmal auf das Klassentreffen zurückkomme.

Falls Du Anfang Februar zu Hause sein solltest, schreibe mir bitte Genaueres, denn ich bin selbst am 2. und 3. Februar zu Hause und würde Dich ganz gerne besuchen.

Ich habe inzwischen den Führerschein Klasse III gemacht - das Auto kann also anrollen, was es hoffentlich noch im Laufe des Februars tun wird; währenddessen wirst Du also nach England oder den USA verschwinden.

Vita aktiva (im folgenden v.a. genannt) und vita contemplativa (v.c.) sind immer diskutierbar, wenn man sich nur in einigen wesentlichen Punkten einig ist, und das waren wir bisher nicht, das heißt, wir haben zum großen Teil aneinander vorbeigeredet. Wenn Du jedochnicht mehr an meinem Brief auszusetzen hast, als das, was Du erwähnst und was ich im folgenden noch versuchen werde zu klären, dann hätten wir noch gemeinsame Ansatzpunkte um v.a. und v.c. zu diskutieren. Ich gebe zu, daß das, was ich über den Drang des Menschen, sich einem anderen mitzuteilen schrieb, mißverständlich war. Es ist richtig, daß, wie Du schreibst, das „sich Ausbreitenwollen“ eine zusätzliche Eigenschaft ist und nichts mit dem Problemkreis v.a. und v.c. zu tun hat. Du schreibst jedoch: „Die Anregung kommt aus mir selber und der Aktivität anderer.“ Das Erstere glaube ich Dir nicht, ob es Dir bewußt ist oder nicht, die wesentlichen Anregungen zu Deinem Denken kommen von außen. Ich glaube, Du wirst mir nach kurzer überlegung zustimmen. Nun zu dem Schluß des Satzes: ich nehme an, Du meinst, aus der Beobachtung anderer Menschen. Auch das ist eine Anregung von außen, wenn Du Dich dem anderen auch nicht „aufdrängst“ (was ich in meinem Brief auch nicht meinte), aber Du kommst ohne sie nicht aus Deinen kontemplativen Betrachtungen. Aber außer diesen Punkten gibt es noch zwei wesentliche Gründe, die Dich zu Deinen Mitmenschen hindrängen, auch wenn Du noch so kontemplativ eingestellt bist. Doch ich will gleich dazuschreiben, daß auch das in Deinen Augen „zusätzliche Eigenschaften“ sind - ich sehe das etwas anders. Die Entscheidung will ich Dir überlassen.

Wenn Du eine Anregung erhalten hast, über ein Problem nachzudenken und falls Du zu einem Ergebnis kommst, dann bist Du dessen doch nicht ganz sicher. Du kannst es vielleicht zwar mathematisch formulieren und mit einiger Sicherheit behaupten, unter diesen Voraussetzungen ist das so oder so, aber die meisten Probleme sind, wie Du weißt, komplizierter und auf diese Art nur unzureichend zu lösen, obwohl ich bereit bin zuzugeben, daß es schöner wäre, wenn jedes Problem nur so angefaßt würde. Angenommen, Du kommst also zu irgendwelchen Lösungen, logischen Schlüssen, Analysen usw., dann willst Du sie prüfen, bestätigt wissen oder je nachdem auch revidieren. Das geht dann aus Dir heraus nicht mehr, oder erst später. Du kannst Dich aber mit einem anderen Menschen darüber unterhalten - kannst Deine Sache verteidigen, kannst zu neuen Einsichten und Erkenntnissen über Deine Gedanken, über Dein Wesen, Deine Schwächen, über Deine Art zu denken kommen.

Zweitens hat jeder Mensch eine gewisse Form des Denkens (die wesentlich von Logik, von unbewußten Komplexen, welche die Logik sogar ausschalten können, Gefühlen usw. beherrscht wird), die er selbst nur sehr schwer durchschauen kann, was jedoch unbedingt zur Selbst-erkenntnis und für fruchtbare Gedanken nötig wäre. Einigermaßen anschaulich wird die eigene Denkform nur im dauernden Vergleich mit der anderer Menschen, möglichst völlig anderer Menschen, unter Umständen auch mit einem Mädchen, falls es genug Grips besitzt.

Diese beiden Gründe könnten auch den Kontemplativen zum Kontakt mit seinen Mitmenschen treiben, nicht nur weil er Mensch, sondern gerade weil er ein kontemplativer Mensch ist...]