[Juni 1961]

Lieber Kluti.

Obwohl ich genau weiß, daß dieser Brief erst in zwei Tagen abgehen wird, heute ist Samstag und die Post hat schon zu, habe ich Lust, auf deinen Brief zu antworten. Einige Stellen reizen mich, wahrscheinlich nicht einmal die, die du denkst. Erst einmal: glaubt ihr denn, Heide eine Freude zu machen, wenn ihr euch selber einen Abend in einem ehemaligen Pferdestall vergnügt? Die Zusammenhänge sind mir nicht ganz klar. Was wird Papa Schultz dazu sagen, wenn sich in seinem Garten ein doch nur entfernt bekannter Mitstreiter für die Ausbreitung von Bildung oder Halbbildung in seinem Garten mit noch minderjährigen (nicht volljährigen) Vollreifen tango-walzend tummelt? (Sofern man überhaupt tanzen kann.) Ganz abgesehen von der Unmöglichkeit 23 Leute in diesen Stall von auch höchstens 23 qm zu quetschen. Pro Mann ein Quadratmeter.(Auch für Hella). Der Garten ist ja auch noch da besonders, wenn es regnet. Wie du dazu kommst Hans-Eberhard nun auch noch deine Arbeitskraft kostenlos zur Verfügung zu stellen, zwecks Ausstaffierung und Zivilisierung dieses von gegorenem Hafer stinkenden und von Kellerasseln und Meisen bewohnten Lochs ist mir in der Tat etwas unklar. Einmalig finde ich es, dass auf eurer Versammlung 6 Mädchen und 5 Jungen waren. Ein nie dagewesener Zustand, dass sich auf so einem Konvent mehr Jungen als Mädchen treffen. Weiterhin fand ich es bemerkenswert, daß bei deiner Charakterisierung Hella am Schluß stand, ich weiß nicht, ob dir das aufgefallen ist, aber doch ein exponierte Platz. Die dritte auffallende Tatsache, wenn man das bisherige zweiteilt, war, daß du dich nach der Fahrt wieder etwas eingekapselt hättest, das hieße doch, daß du während der Fahrt aufgeschlossen gewesen wärst. Bitte, es ist ja möglich, ich war noch nie auf einer Fahrt dabei, aber vorstellen kann ich mir dich als aufgeplusterten Gockel à la Hans-Eberhard (übertrieben!) nur sehr schwer Aber ich glaube, ich seziere den Brief zu sehr, mit meinem möchte ich das auch nicht zulassen. Etwas typisches noch, etwas „quod erat expectandum“, daß Steffi dabei war. Ich schliesse ja immer von mir auf andere, aber den Mut, nachdem ich ein halbes Jahr in einer Klasse bin, bei so einer „intimen“ Erörterung mich einzudrängen, hätte ich nicht. Noch dazu, wenn ich eine Steff wäre. Aber zu ihrer Natur gehört es eben, daß sie sich überhaupt nicht oder falsch einschätzt, ersteres ist das Wahrscheinlichere. Ich fahre übrigens am Donnerstag (ist es ein Donnerstag ?), den 29. nachmittags hier ab und bin Freitag morgen wieder zu Hause. Mit einigen Verschiebungen einerseits (quod erit expectandum) komme ich dann ja noch in die Verlegenheit, mir einen triftigen Grund zwecks Fernbleibens auszudenken. Deine Andeutung auf Heides Diskussion von wegen der Planwirtschaft, ob sie von den Gesetzen des Merkantilismus her zu begreifen oder abzuleiten sei, hat bei mir „maßloses“ Staunen und Nichtkapieren hervorgerufen. Erstens dieses entweder-oder muß doch gegensätzlich sein; begreifen und ableiten sind es aber nicht, zweitens ist mir das ganze aber so fremd und unvertraut, daß ich wirklich nichts darauf zu sagen wüßte, mir aber auch nicht vorstellen kann, daß ich, wenn ich in der Schule wäre, etwas sagen könnte. Beklemmend, daß ich das nachholen muß (irrealis wäre besser). Aber beruhigend ist es, daß ich hier auch nicht gerade leisetrete. Platon und Goethe und Horaz, zwar nur Fixpunkte, aber doch entscheidende, beschäftigen mich intensiv. Tschüß mit den übrigen Grüßen an ...

Dein Bernd

Gewöhne dir bloß nicht so lange Sätze an, wie ich sie hier gebraucht habe, man knobelt zu lange, bis man sie sinnvoll zuende hat. Und auch das nicht immer.



[Die vier Briefe aus Keutschach stammen aus der Zeit vor den Sommerferien der Oberprima; „Die Fliegen“ sind ein Theaterstück von Sartre; Hella Pampus und Uwe Schmidt sind Mitschüler, Uwe war Klassensprecher in der Oberprima. „Don Carlos“ hatten wir am Anfang der Oberprima auf dem Lehrplan, später auch „Faust I“, zu Bernds Enttäuschung sind wir aber nie bis zu Faust II gelangt.

Papa Schultz“, Hans-Eberhards Vater ist u.a. Lateinlehrer an unserer Schule gewesen, daher ein Kollege von Heide. Steffi Kronseder war in der Oberprima neu in unsere Klasse gekommen - sie wurde von Bernd offensichtlich nicht besonders geschätzt, um es vornehm zu sagen. Die „Party“ im Pferdestall ist trotz Bernds massiver Einwände doch zustande gekommen - und hat ebensoviel Spaß gemacht, wie ihre Vorbereitung. Der genannten „Fahrt“ kann ich nur einen der damals üblichen Wandertage zuordnen, der, neben einem Spaziergang, aus einer Bötchenfahrt auf dem Rhein bestand. Die häufige Erwähnung von Hella Pampus, auch an den unmotiviertesten Stellen, kann ich mir nur damit erklären, daß Bernd wußte, daß ich in Hella verliebt (damaliger Ausdruck: „verknallt“) war. Er selbst schreibt über seine Erfahrungen (im 2. Brief) ohne jedoch ein Objekt seiner Träume zu nennen. Aus seinen mündlichen äußerungen weiß ich, daß es sich dabei - wenn überhaupt um ein Mädchen aus unserer Klasse - wahrscheinlich um Inge Tzschaschel gehandelt haben muß.]