15.4.60

Lieber Kluti.

Vielen Dank für deinen Brief. Ich werde also das letzte Wort behalten. Wollte man gehässig sein, könnte man sagen, deine Langeweile könne man an den für meine Begriffe zahlreichen und langen Briefen ermessen. Aber man soll nie von sich auf andere schließen. Außerdem ist das auch umkehrbar. In deinen Briefen ist ein Wandel zu bemerken. Der 1. war steif (Entschuldigung) und korrekt und du drucktest etwas herum, da du nicht viel zu schreiben hattest. Bei dem letzten habe ich mehrmals gelächelt und einmal gelacht. Letzteres wahrscheinlich an der falschesten Stelle und da, wo du es nicht erwartet hättest, aber egal, vielleicht weist du, was ich meine. Hinschreiben werde ich es nicht noch einmal, so gemein bin ich nicht. Außerdem die Hühneraugen (deine). Daß du Kafka hast aus dem Fenster schmeißen wollen, kann ich verstehen. Wenn man gerade gegessen hat und ihn liest, braucht man eventuell einen Spucknapf. Aber dennoch finde ich ihn genial und fabelhaft. (Den letzten Satz hätte ich besser mit „gerade darum“ anfangen sollen) Das passiert dir bei keinem anderen Dichter (wenigstens nach meinen kümmerlichen Erfahrungen) oder nur wenn der Dichter grausam oder schweinig wird. Und Kafka ist beides nicht und trotzdem wird einem übel. Das Fleckchen hier hat sogar 2 Kinos. Aber ich verspüre nicht den Drang, mir „Tarzan und ...“ oder „Duell in den Bergen“ und ähnlichen Mist anzugucken. „Freddy unter fremden Sternen“ gab es neulich auch mal. Dazu ist mir mein Geld entschieden zu schade und zu knapp. Es wäre ja noch schöner, wenn du auch ohne Gesellschaft Hintergedanken hättest. Ich kann mich zwar nicht besinnen, einmal gesagt zu haben, ich sei über die Zeit hinweg, aber bei „solchen Wesen“ hat das immer gestimmt. Vielleicht erinnerst du dich noch so ungefähr an deinen Brief und weist noch, was danach kommt. Da möchte ich dir nämlich widersprechen. (Auch du bist nicht nur abgelenkt worden, sondern hast auch nachgedacht.) Jetzt kommen wir zwar mit der Vorsilbe „ver“ in Konflikt, aber da kennst du ja, glaube ich, meine Meinung, die ich aber langsam revidieren muß. Man wird ja alt (älter). Falls Du eine Briefzensur hast, wird sie ja mit viel Scharfsinn an die Sache rangehen müssen. Hoffentlich verstehst du, was ich meine. Wie du weißt, habe ich ja größtenteils Goethe mitgenommen. Man kann ihn weiterempfehlen. Werturteile will ich mir nicht anmaßen zu geben, aber ich verstehe seine bewunderte Größe. Machen wir lieber Schluß, ich kriege das Blatt ja doch kaum voll. Grüße deine Eltern.

Dein Bernd


[Kafka aus dem Fenster war „Der Prozeß“, den ich gerade gelesen hatte.]