Gustav Gerhardy an seine Mutter

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Trier, den 29. XII 1881

Herzliebe Mutter1
Mein gestriger Brief, wird bereits schon in eure Hände gelangt sein und ihr seht daraus, wie es mir geht.
Heute treibt mich wiederum mein Herz zu dir, aber aus einem anderen Grund. Dein liebes wiegen fest, daß ich sonst in Person und im innigen Verein mit den anderen dir lieben zu feiern gewohnt war, tüdet heran. Zum ersten Mal in meinem Leben ist es mir nicht vergönnt, persönlich in aller Früh unter deinen ersten Gratulanten zu stehen und dir den üblichen Geburtstagskuss auf die mütterlichen Lippen zu drücken.
Hoffentlich wirst du auch ohne mich in diesem Jahre ebenso heitere Stirn zeigen, wenn auch dein Herz von langer Sorge über den guten Vater gefüllt ist. Doch ich kann beim Gottvertrauen und wenn auch die Operation einer Balggeschwulst eine schmerzhafte, wie jede Operation, falls nicht Chloroform angewendet wird, so ist dieselbe jedoch in der Hand geschickter Ärzte, für den ich Axmann halte, nie gefährlich.
Die Aufregung die dich also erfassen wird, halte mit diesem Gedanken nieder, und überlasse das andere der Fügung des Herren. Wunderbar aber ist es doch, daß Axmann diesen Knubbel so lange für ein richtiges Geschwulst gehalten und mit Salbe bearbeitet hat, bis er jetzt endlich, nach dem dasselbe die Dimension eines Hühnereis, wie du schreibst, angenommen hat, auf die Möglichkeit eines Balggeschwulstes kommt.
Wir wollen hoffen, daß der gute Herr Sanitätsrath nun das Richtige getroffen hat. Mit der Operation aber ja nicht gezaudert je größer das Ding wird, desto umfangreicher und natürlich auch gefährlicher wird die Schneiderei. Ich hoffe das Beste, und vertraue immer noch auf den sonst doch so bewerten Blick und die Kunst Axmanns, hoffe auch du, und halte mich, bitte, durch einige wenige Zeilen in Kenntnis, wann die Sache vor sich geht, und wie der Verlauf ist.
Von hier kann ich dir neues nicht berichten, denn ein Tag schleicht jetzt regelmäßig wie der andere hin. Sonst konnte man doch wenigstens einmal in das Theater gehen, wenn Cassia es gestattet, aber leider hat, wie in Aachen und in anderen Städten der Rheinprovinz, das edle Stadt Theater, in welchem auch ich mich zum letzten Mal an unsere Frauen ergötzte, bankrott gemacht. Doch nun zum Schluss.
Die Pflicht ruft mich wieder aus meiner Bude an die Luft. Feiere dein liebes wiegen fest in der mir bekannten Weise und tritt dein neues Lebensjahr, sowie das Jahr 1882 gut und vertrauensvoll an und bewahre in dem selben deine alte mütterliche Liebe und Zuneigung,
deinem dich innig liebenden jüngsten Sohn Gustav
Grüße alles grußbare und wünsche Ihnen von mir Glück zum neuen Jahre


  1. Transscription durch Sibylle Fährmann