Gustav Gerhardy an seine Eltern


Seite 1 Seite 2 Seite 3 Seite 4

Trier, den 16. August 1882

Geliebte Eltern.
Weit von Euch entfernt durch den
physischen Raum, bin ich doch im Geiste
noch nie von der Heimstätte meiner Gefühl
und meines Sinnens und Denkens entfernt
gewesen. Unser Vermittler war bislang
immer nur der heilige Stephan, jetzt
aber, an dem Tage, an welchem ich nun
volle 25 Jahre in die Welt geschaut, ist
es nicht mehr die alte Verbindung gewesen,
sondern zum ersten Male war es mir in
der Fremde vergönnt mein Bruderherz an
meine Brust zu drücken und bei mir zu
haben. Ich sage Euch, ich will gern auf
Alles verzichten, was Ihr mir zu mei¬
nem Wiegenfest Gutes erwiesen, wenn
Ihr Euch dem Entschluß, unseres Leopold,
dem ich hiermit nochmals meinen inig¬
sten Dank ausspreche für die Verschönerung
meines Wiegenfestes, (nicht) angeschlossen
hättet. Dieser Tag ist in meinem Tage¬
buch mit einem großen Stern bezeichnet,
und möchte ich denselben für nichts Anderes
hergeben. Ich habe früher niemals glau¬
ben wollen, daß plötzliche Freude ebenso
wie plötzlicher Schmerz der Seele den Menschen
alteriren kann, aber jetzt weiß ich es
besser. Wie Leo schon erzählt haben mag,
ich war sprachlos als mir mein Freund
Hallwachs in den Casinosaal athamlos herein.
stürzte und mir zurief:
Du, dein Bruder
ist draußen. Karten wegwerfen, auf
springen, hinausstürzen, umarmen, herz
hafter Kuß mit Jubelgeschrei, wieder fort¬
stürzen, einschreiben in das Fremdenbuch
einführen im Triumph in den Kasinosaal,
Alles das war die That weniger Augen¬
blicke, in denen ich selbst vor Freude meiner
kaum noch mächtig war. Es war ein
ganz reizender Zufall, daß gerade mei¬
nes intimsten elternlosen Freundes
Bruder, Schwestern und Verwandte hier
auch zu Besuch waren. Ich glaube diese
reizende muntere Damengesellschaft hat
Ihm wie ja auch mir ganz besonders
gut gefallen, so daß wir nicht einmal
das Amphitheater besucht haben. Es
ist an letzterem ja zwar nur noch die
arena zu sehen, aber wiegt doch eine1
historische Stätte. Über Alles laßt Euch
von Leo berichten. Er kennt mit Aus¬
nahme von Stoll und dem Oberst eigent¬
lich Alles, was Ihr zu wissen wünscht. Auch
Heldbergs hat er passieren sehen, er weiß
auch, daß ich in der Trier Prämienlotterie
auf mein Loos nichts gewonnen habe.
Ich selber kann Euch nichts Neues von
hier berichten, nur innig danken für
Alles was Ihr mir zu meinem Wiegen¬
fest gestiftet und für die schönen Tage
die Ihr mir durch Leopold hier bereitet.
Hoffentlich wird binnen kurzem eine Zeit
kommen, wo ich auch Euch einmal auf
längere Zeit bei mir in Trier sehen
kann, für heute mit innigem Kuß2


  1. an der linken Seite von Seite 3 steht:
    Es sind Aussichten daß unser Manöver hier stattfindet, da in Hilleshein die Pocken ausgebrochen sein sollen. „Was Gewisses weß mer nicht“  

  2. an der linken Seite auf Seite 4 steht:
    Euer Jüngster. Briefe an Tante Jule und Sophiechen folgen demnächst