Gustav Gerhardy schreibt am 20. Mai 1883 an seine Eltern

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Liebe Eltern1
Kaum war mein Paket der Post übergeben, da erhielt ich eure beiden lieben Briefe, die mir einen Theil meiner langen Sorge um Dich mein Herzväterchen genommen haben. Denn wenn von zwei Autoritäten Axmann wiederlegen, dann wird ja wohl Deine Genesung und Befreiung von dem alten Drüsenleiden nicht mehr lange anstehen. Daß Du Dich pensionieren laßen willst, ist mir eine große Beruhigung, da kannst Du wenigstens nun ganz Deiner Gesundheit leben und bleibst uns dann noch länger erhalten.
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Der liebe Herr Gott hat übrigens in unsere finanzielle Lage ein einsehen. Ich komme, wenn wir auf Metz versetzt werden in den Monaten, wo wir nicht auf dem Forts liegen, mit 10.M weniger Zulage aus. An der Versetzung ist gar kein Zweifel mehr. Die 29er kommen hieher (fluchund) und wir kriechen, wenn es verlangt wird, rückwärts wie die Krebse, freudestrahlend, nach Metz. Die verheirateten 29er sind bereits heute hier und sehen sich die Wohnungen unserer Verheirateten an. Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn
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es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Der böse Nachbar ist aber für lange Jahre noch ganz bescheiden und zufrieden, wenn wir ihn in Ruhe laßen. Ehe in Frankreich das neue Verordnungssystem nicht in Fleisch und Blut übergegangen, ist an Krieg garnicht zu denken, und ferner mußt Du bedenken Väterchen, daß unsere Armee in 11 Tagen bis auf die letzte Proviantkolonne schlagfertig an der Grenze steht. Und so schlimm sind die Franzosen auch nicht, daß sie, wenn es einmal losgehen sollte, den Stier bei den Hörnern packen und gleich
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auf Metz los marschieren um sich gleich von vornherein daran die Köpfe einzurennen. Nach allem was wir hier wissen und sehen suchen die Franzosen eine unbezwingbare Defensive gegen uns, sonst hätten sie nicht die ganze Grenze mit kolossalen Befestigungswerken gespickt.
Sollten Sie im Falle des Miteingreifens einer anderen Macht doch offensiev werden, so hat ihre Offensive nur mit Invasion durch Belgien oder die Schweiz Erfolg. Nur ohne Sorge so lange Moltke und seine Schule den Krieg leitet.
Seine intelligentesten Schüler v. Scherff und Mekel sind an hiesiger Grenze, das genügt. Was nun in der von dir lieber Vater vermeinten,
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Exponierten Stellung für besonders Unangenehmes liegen soll, das verstehe ich nicht. Geht es einmal los, so bleiben wir alle zunächst Besatzung von Metz, den ersten Tag zieht das jüngste Regiment auf Vorposten, also wir, während die anderen Regimenter die Festung kriegsbereit machen und armieren. Nach 4 Tagen kommen wir wieder auf Vorposten und dann lösen uns die neu angekommenen Truppen ab. Das schmerzlichste Zusammentreffen bei dieser Kriegs… Verfügung ist aber
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das, daß die Oberleutnants die Bataillone verlieren und als Stellvertretende Regimentskommandeure eine neue Stellung bekommen. Durch diese Verfügung werde ich bald meinen Freund und Gönner Stoll als Bataillonskommandeur verlieren und wie der Balser ist, unser jetziger Etatmäßiger, und wie es dann mit den Adjutanten aussieht, das ist dann eine sehr peinliche Sache. Man muß abwarten. Der Himmel hat bis jetzt geholfen, vielleicht hilft er auch weiter nach Wunsch.2 7
Die Hauptsache für mich ist jetzt die, daß ich bald in eine Stellung komme, in der ich meinen Hals schonen kann und ein paar Jahre nicht zu kommandieren brauche, dann wird sich der alte Junge bald wieder machen.
Was nun Bruder Heinz anbetrifft, so kann ich Dir nicht in allem Recht geben. Es liegt im Interesse des Dienstes, zu weniger im Frontdienst täthigen Hauptleuten, tüchtige Frontoffiziere zu kommandieren, Heinrich ist ein solcher und deshalb ist er jedenfalls in obige Stellung vom Regimentskommandeur versetzt, daß der betreffende Kompagniechef
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kein angenehmer Mensch ist, das ist sein spezielles Pech. Aber wir Offiziere können da in dieser Beziehung auch sehr viel A..... Ich zum Beispiel würde mir das, was ich unter Schinderei verstehe, nicht gefallen lassen, sondern setzte sofort den Helm auf und würde mich beschweren. Es wird aber wohl nicht so schlimm sein. Es ist eben eine Eigentümlichkeit der Frontoffiziere, daß immer über den Dienst geschimpft werden muß, sonst fühlt man sich nicht wohl; denn der Geisttödtende Gamaschendienst ist auf die Dauer für ein denkendes Individuum zum speien. Aber er muss halt gemacht werden.
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Hat man einmal A gesagt, so muß man auch B. sagen. Unter 1000 herzlichen Grüßen an Euch Geschwister und Verwandte wie Bekannte verbleibe ich Euer Euch liebender Sohn
Gustav


  1. Transscription durch Sibylle Fährmann 

  2. Seitlich auf Seite 5 & 6 nicht lesbar